

Es ist nur ein kleines Detail, doch es wirkt hypnotisch: Der Mann mit kurzen grauen Haaren sitzt am Tisch eines kleinen Bistros. Blättert durch ein Magazin. Und blättert immer weiter, unaufhörlich. Die immergleiche Handbewegung lenkt davon ab, dass auf dem Bild sonst nichts passiert - nicht einmal auf dem Fernseher an der Decke. Die Szene erscheint wie eingefroren, wäre da nicht das hypnotische Blättern.
Cinemagramme heißen solche Mini-Szenen, festgehalten im GIF-Format, das mehrere Einzelbilder in einer Datei speichert und in Endlosschleife abspielt. Die digitalen Daumenkinos verbreiten sich rasant im Netz, weil Smartphone-Apps den Nutzern bei der Aufnahme helfen. Mindestens vier davon stehen bereits im iPhone-Appstore bereit. Mit ihrer Hilfe sind Cinemagramme nicht nur fix hergestellt, sondern lassen sich über soziale Netzwerke auch mit Freunden teilen. Damit eignen sich die Apps auch für Urlaubsfotografen, die ihre Diashow aufpeppen wollen: Auf einem Cinemagramm fließen die Niagarafälle über die Klippen, auf der Golden Gate Bridge fahren die Autos - solange sich etwas bewegt, lässt sich auch ein GIF daraus machen.
Die Poesie des Augenblicks festhalten
Das Foto mit dem Bistro-Gast stammt aus Maastricht, dort hat es der deutsche Student Albrecht Sensch aufgenommen. "Das ist so, als würde man die Zeit anhalten, aber manche Objekte gehorchen nicht", sagt er. Mal sind die bewegten Bilder witzig, mal rührend - fast immer aber strahlen sie eine Art Poesie aus. "Die Bewegung stößt dich auf ein Detail, das du sonst vielleicht nicht bemerkt hättest", sagt Sam Garfield. Wie Sensch veröffentlicht er seine Bilder in der Community Reddit - dort finden sich täglich mehr Fans zusammen.
Die meisten generieren ihre Cinemagramme nicht am Computer, sondern nutzen eine der Apps fürs eigene Handy. Das Prinzip ist bei allen gleich: Zuerst nimmt der Nutzer ein Video auf oder importiert es aus dem Fotoalbum, dann wählt er den Abschnitt aus, in dem die Bewegung stattfindet. Den Animationsbereich malt er mit dem Finger auf ein Standbild des Videos. So entsteht eine durchscheinende Maske im Bild, unter der das Video abgespielt wird - die Bewegung wird sichtbar. Außerdem bieten alle Apps Bildfilter, mit denen das Motiv einen antiquierten Touch bekommt, etwa den einer Polaroid- oder Lomo-Kamera, wie man das von Retrofoto-Apps wie Instagram oder Hipstamatic kennt.
Ein Internet-Relikt feiert Auferstehung
Flixel heißt eins der iPhone-Programme. Es stammt von einem gleichnamigen Start-up-Unternehmen im kanadischen Toronto und gewinnt nach eigenen Angaben derzeit täglich mehrere tausend Nutzer dazu. Der 29-jährige Mitgründer Mark Homza sagt: "Wo ein Fotograf nur an die Komposition denkt, geht ein Flixel-Nutzer weiter. Er muss ja auch an eine Bewegung denken, die sich immer wieder wiederholen lässt."
Den Charme der Bewegtbilder sieht er allerdings nicht nur in der neuen Art der Fotografie, sondern auch in der eigentlich überholten Technik: GIF-Bilder sind ein Relikt des Internets. Früher nervten sie als drehende @-Zeichen oder hüpfende Cartoonfiguren auf privaten Homepages. Als diese Zeit vorbei war, starb das Format online fast aus.
Den neuen Lebenshauch lieferten die New Yorker Fotografen Jamie Beck und Kevin Burg. Im vergangenen Jahr fingen sie Augenblicke der New York Fashion Week als GIF ein und stellten sie online. Das Konzept begeisterte zunächst eine Brauerei, die ihre Homepage mit Cinemagrammen von Beck und Burg aufhübschen ließ - dann machte sich der Trend im Netz breit.
Digitale Hypnose
Dort eifern die Nutzer nun um die schönsten, die magischsten Schnappschüsse. "Absolute Stille, kombiniert mit einer subtilen Bewegung", so beschreibt Homza das perfekte Cinemagramm. Besonders spannend sind Bilder, in denen eine Bewegung eingefroren ist, während die andere wiedergegeben wird - etwa ein einzelner Mann, der sich in einer Menschenmenge umdreht. So lässt sich ein Akzent setzen, mit dem anfangs niemand gerechnet hat. Ist die Bewegung besonders klein und unauffällig, wird das Bild möglicherweise sogar zum Suchrätsel - und macht den Traum eines "Cinematografen" wahr: Es hypnotisiert den Betrachter.
Machen Sie auch animierte GIFs? Nutzen Sie eine App oder arbeiten Sie klassisch mit Rechner und Bildbearbeitungsprogramm? Schicken Sie uns Ihre Meisterwerke an netzwelt@spiegel.de, Stichwort "Cinemagramme", mit der Einwilligung, die Bilder bei SPIEGEL ONLINE honorarfrei zu zeigen und einem Satz zu Ihrer Methode - die schönsten präsentieren wir in den nächsten Tagen.
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Blättern, blättern, blättern: Die Szene aus einem Bistro in Maastricht wirkt unspektakulär, aber hypnotisch. "Cinemagramm" heißt die Technik, mit der sich die Bewegung einfangen lässt.
Augenrollen, einseitig: Nutzer Sam Garfield nimmt es anatomisch nicht so genau. Bei der Herstellung der Bilder helfen Apps wie Cinemagram.
Volle Lippen, schöne Augen, doch das Highlight dieses animierten GIF-Bilds ist der Wasserhahn.
Poesie des Augenblicks: Danach fahnden Cinemagramm-Fans wie Michael Alberghini, der dieses Motiv in einer verlassenen Fabrik in Atlanta einfing.
Auf und ab: Auch für Stillleben wie das einer japanischen Winkekatze eignen sich Cinemagramme.
Flixel: Die App ist überaus intuitiv. Der Bereich, der als Bewegungsmaske markiert wird, zeigt sofort die Animation an. Dadurch lässt sich leicht die Fläche markieren, in der sich auch tatsächlich etwas bewegt. Flixel ist gratis, wer mehr Bildfilter haben möchte, muss allerdings 79 Cent bis 1,59 Euro in Upgrade-Pakete investieren.
Cinemagram: Die kostenlose App ist die schnellste im Test. Bewegtbilder sind ohne lange Rechenzeit erstellt. Unbequem: Die Bewegungsmaske ist nur als Farbschicht sichtbar. Welchen Bereich der Nutzer markieren muss, um garantiert die ganze Bewegung einzufangen, muss er selbst abschätzen.
Giffer!: Das Programm erzeugt im Hauptberuf GIF-Animationen aus Einzelbildern, Cinemagramme gibt es im Pro-Upgrade für 79 Cent. Dabei offenbaren sich jedoch technische Schwächen: Die Bewegung wirkt nicht flüssig und der Bildstabilisator ist unter den getesteten Apps am wenigsten ausgereift.
Kinotopic: Hier kann der Nutzer ein beliebiges Einzelbild aus dem Video wählen, das den statischen Teil des Cinemagramms bildet. Außerdem lässt sich eine Maske aktivieren, unter der das Bewegungsvideo in doppelter Geschwindigkeit abgespielt wird; das bietet mehr kreative Möglichkeiten. Mit einem Pro-Upgrade für 79 Cent lassen sich Cinemagramme in höherer Auflösung aufnehmen.
Das Ergebnis: Besonders spannend sind Bilder, in denen eine Bewegung eingefroren ist, während die andere wiedergegeben wird. Dieses Beispiel wurde mit Cinemagram erstellt.
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