Sascha Lobo

Ein Posting und seine Folgen Die deutsche Kinderfeindlichkeit, erklärt anhand einer Instagram-Story

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Übers Netz wollte unser Kolumnist auf eine ungünstige Situation für Kinder und ihre Eltern hinweisen. Doch schon bald wurde er vielfach verspottet und beschimpft. Das verrät viel über die Gesellschaft.
Frau und Kind im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg (Symbolbild): Unterwegs auf Kopfsteinpflaster

Frau und Kind im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg (Symbolbild): Unterwegs auf Kopfsteinpflaster

Foto: Jens Kalaene / dpa

Anderntags wurde mein jüngstes Kind zwei Monate alt, und deshalb spazierte ich mit dem Kinderwagen durch den für seinen Kinderreichtum bekannten Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Als ich die Vorzeigekulturstätte Pfefferberg, ein ehemaliges Brauereigelände, besuchen wollte – an einem ausdrücklich als »barrierefrei« bezeichneten Eingang  – stieß ich auf einen breiten Eingangsplatz. Allerdings war er flächendeckend mit Kopfsteinpflaster bedeckt. Worüber ich eine Instagram-Story veröffentlichte, in der ich auf die kinderwagenabweisende Pflastersteinfläche hinwies sowie auf die Schwierigkeiten für Rollstuhlfahrer*innen (hier kann man die Story nachschauen, wenn man einen Instagram-Account hat ).

Stories sind ein Instagram-Format, das in der Regel nach 24 Stunden gelöscht wird. Sie bestehen aus kurzen Videos oder Bildern, die man etwa mit etwas Text, animiertem Dekogetöse oder einem Link anreichern kann. Meine Story mit dem Kinderwagen wurde rund 25.000 Mal angeschaut, das ist etwa mein Durchschnitt. Sie hat allerdings in verschiedenen Darreichungsformen quer durch deutschsprachige soziale Netzwerke weit über zehntausend Reaktionen bekommen. Das ist weit über dem Schnitt – aber noch interessanter ist die Qualität der Reaktionen.

Damit die Situation nachvollziehbar wird, folgt an dieser Stelle ein kurzer Exkurs über einen häufig auftretenden Mechanismus in sozialen Medien. Es geht um einen Effekt namens Personifikation. Bekanntere Menschen im Netz werden – fast egal, worüber sie sich äußern – nicht als Person betrachtet, sondern in erster Linie als Symbol. Für eine Gruppe, für eine politische Richtung, für eine bestimmte Verhaltensweise, für was auch immer.

Dieser Effekt ist bei mir als sehr privilegierter Person eher belustigend, für andere, marginalisierte Menschen aber kann er geradezu vernichtend wirken: Dann wird eine schwarze Frau zur Verantwortlichen für alle schwarzen Menschen gemacht, ein Jude wird zum Verantwortlichen für alle Jüdinnen und Juden sowie natürlich Israel gemacht und so weiter. Das ist jeweils natürlich rassistisch und antisemitisch, es ist eigentlich geradezu die Definition von Stereotypen, von Vorurteilen. Zwar können viele Menschen unter Vorurteilen oder unfairen Zuschreibungen leiden. Aber bei marginalisierten Menschen können Vorurteile töten.

Eine tiefe Wahrheit über die Motive und die Welthaltung des Publikums

Betrachtet man den Mechanismus der Personifikation technosoziologisch, passiert in den Köpfen der vielen etwas Bemerkenswertes: Man findet in der Symbol gewordenen Person endlich eine*n Ansprechpartner*in, um den Gefühlen, positiv wie natürlich auch negativ, freien Lauf zu lassen. Man hat endlich eine*n Adressat*in für das, was einen schon lange umtreibt. Das ist ein wichtiger Grund für die vielen plötzlichen Hass- und Ablehnungsausbrüche an unvermuteter Stelle, von denen Betroffene immer wieder berichten: »Ich hab nur ›Hallo‹ gesagt und hatte plötzlich einen tausend Köpfe starken Schimpfmob am Hacken.«

Es ist auch ein Grund, warum in Shitstorms sich so ungeheuer viel Wut entlädt. In der Personifikation liegt deshalb oft eine tiefe Wahrheit über die Motive und die Welthaltung des Publikums. Eine frauenfeindliche Person lässt bei einer solchen Gelegenheit schnell frauenfeindliche Schimpftiraden los. Eine rassistische Person verwendet dann rassistische Kommunikation. Und eine kinderfeindliche Person wird eben jeden Wunsch nach einem kindergerechten Umfeld verächtlich machen. Dabei lösen sich die Angriffe von der konkreten Person ab und zielen irgendwann nur noch auf das personifizierte Symbol.

Von marginalisierten und diskriminierten Menschen zurück zu mir und meiner Kinderwagensituation, die natürlich weit von jedem Shitstorm entfernt war. Durch meine Instagram-Story wurde ich für überraschend viele Menschen, viele Tausende nämlich, zum Symbol für Prenzlauer-Berg-Eltern mit ihren nervigen Kinderwägen. Man kann das gut daran erkennen, dass oft ohne Umschweife ein Ablehnungsbogen von mir zu den berüchtigten »Prenzlberg-Muttis« oder »Latte-macchiato-Muttis« geschlagen wurde. Also einer stark abwertenden Erzählung, bei der sich Kinderfeindlichkeit mit Mütter- und Frauenfeindlichkeit trifft.

Jetzt kommen die Anti-Kinderwagen-Ultras

Deshalb ist es erst einmal gut, dass es mich trifft, kein Witz, denn um meine Kollegin Margarete Stokowski  in anderem Kontext zu zitieren: Ich kann damit besser umgehen als die allermeisten anderen Menschen. Nicht nur weil ich privilegiert bin, sondern auch schlicht aus Erfahrung. Nach einer »Maischberger«-Sendung, in der ich gegen die AfD gewettert habe, habe ich mal grob geschätzt 2000 Gewaltdrohungen abbekommen, darunter vielleicht ein Viertel Todesdrohungen.

Es ist strukturell natürlich irgendwie traurig, aber wenn man BKA-bestätigt auf einer mittleren Anzahl von Nazi-Todeslisten steht, schocken einen Anti-Kinderwagen-Ultras jetzt nicht so nachhaltig. Dabei gibt es von dieser Sorte tatsächlich aberwitzig viele, wie sich anlässlich meiner Story gezeigt hat.

  • »Lobo fühlt sich von Kopfsteinpflaster diskriminiert« – 2500 Likes.

  • »Eines der größten Versagen während der industriellen Revolution war es, dass die Fabrikgelände nicht kinderwagengerecht gebaut wurden« – 4000 Likes.

Und so weiter und so fort, verbunden natürlich mit jeder Menge direkter Reaktionen, Widersprüche und Beschimpfungen. Ich finde das persönlich lustig, vor allem weil ich in einer extrem seltenen und enorm luxuriösen Position bin: Ich kann mit Beschimpfungen Geld verdienen! Zum Beispiel genau jetzt in dieser Sekunde, in der Sie diesen Text lesen.

Das fuchst erfahrungsgemäß viele Bitterköpfe stärker als jede Gegenrede, dass ich ihre Ablehnungsenergie in finanzielles Kapital umwandeln kann. Vielleicht halte ich auch vier oder fünf hervorragend bezahlte Vorträge darüber und kaufe mir davon eine Sänfte oder miete einen Hubschrauber, um mich und meine Kinder über alle Kopfsteinpflaster der Welt drübersausen zu lassen.

Toll, dass dein zwei Jahre alter Nachwuchs dann schläft

Die meisten Anwürfe aber – es waren natürlich nicht alles Beschimpfungen, und einige waren geradezu liebevoll – bestanden im Kern aus zwei Argumentationssträngen:

  • Das ist doch Quatsch, mein Kind findet Kopfsteinpflaster super, da schläft es immer ein!

  • Denkmalschutz ist wichtiger als Kinderwägen!

Der erste Argumentationsstrang zeugt, wenn er derart abschätzig vorgetragen wird, von mangelnder Empathie. Davon, dass man sich weder vorstellen kann noch möchte, dass andere Kinder anders sind als das eigene. Toll, dass dein zwei Jahre alter Nachwuchs dann schläft, aber mein Säugling ist acht Wochen alt und wird vom Kopfsteinpflaster auf unfamose Weise durchgeschüttelt.

Die Erfahrung mit den eigenen ein, zwei, drei Kindern wird generalisiert und allen anderen übergestülpt, das ist geradezu die Essenz von mangelnder Empathie für andere Kinder und ihre Eltern. »Stellt euch nicht so an«, wie viele Generationen von Kindern wurden auf diese Weise verbogen.

Und mangelnde Empathie für andere Kinder außer den eigenen und deren Bedürfnissen – das ist tatsächlich eine der Keimzellen der deutschen Kinderfeindlichkeit. Denn Kinderfeindlichkeit äußert sich auch und gerade in Form eines Umfelds, das es den Eltern schwerer macht.

Der zweite Argumentationsstrang dagegen ist für viele, sehr unterschiedliche Diskriminierungen typisch: Man findet immer etwas anderes wichtiger. Mehr Frauen in Führungspositionen? Nein, Qualifikation ist wichtiger! Rassistische Äußerungen sanktionieren? Nein, Meinungsfreiheit ist wichtiger! Nazis und Antisemiten von der Buchmesse ausschließen? Nein, Toleranz für Andersgewalttätige ist wichtiger!

Und so ist es eben auch mit Kinderwägen und dem, wofür sie stehen: Kinder. Wer über Kinderwägen lästert, hat schlicht nicht den Mut, offen seinen Kinderhass auszusprechen. Und dann ist eben ein ohnehin nur vermuteter Denkmalschutz wichtiger, als Menschen mit Kinderwägen nicht auszuschließen.

Es geht hier nicht um mich oder mein Kind

Nahtlos hat sich in viele Äußerungen auch eine implizite Behindertenfeindlichkeit gemischt. Mein Hinweis, dass auch Rollstuhlfahrer*innen Probleme haben dürften (Gehhilfennutzende ebenso), wurde ignoriert. Stattdessen wurde angeprangert, dass überhaupt jemand wagt, das heilige Industriekulturdenkmal infrage zu stellen! Was auf viele Weisen Unfug ist, der Platz bestand noch vor ein paar Jahren vor allem aus Schlamm, und niemand hätte sich einen Zacken aus der Denkmalkrone gebrochen, wenn einfach in der Mitte des Kopfsteinpflasters ein glatter, für beradete oder berollatorte Personen geeigneter Weg eingerichtet worden wäre.

Es geht hier nicht um mich oder mein Kind, wir sind nur der situative Anlass für Tiraden, die tief blicken lassen. Denn natürlich ist völlig klar, dass ich und mein Kinderwagen samt Kind zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Leidsituation waren, wir haben den Nichtbesuch des Pfefferbergs dann auch knapp überlebt.

Aber es ist ebenso klar, dass alternativlose Pflastersteine eine Reihe von Menschen diskriminieren – und trotzdem erbittert verteidigt werden, mit Spott, Beschimpfungen, großem Gezeter samt Herabwürdigung von gar nicht anwesenden Latte-macchiato-Müttern. Sei es aus egoistischen, empathielosen Gründen (für mich ist das gut) oder aus schlichter Kinderfeindlichkeit (Denkmalschutz ist wichtiger als Kinderwägen). Mir ist nicht besonders wichtig, ob ich mit Kinderwagen über den Vorplatz des Berliner Pfefferbergs laufen kann oder nicht.

Doch wenn jemand das nächste Mal wissen möchte, warum Deutschland trotz einiger Verbesserungen noch immer als kinderfeindliches Land gilt, dann kann man antworten: Weil es massenhaft Spott und Beschimpfungen nach sich zieht, auf ungünstige Situationen für Kinder und ihre Eltern hinzuweisen. Und das ist Ausdruck einer strukturell kinderfeindlichen Haltung.

Womit wir – weit abseits meiner Kopfsteinpflasterbeschwerde – beim eigentlichen Problem wären. Warum sind zwanzig Prozent der Kinder in Deutschland armutsgefährdet? Warum sind die Geburtenraten so niedrig? Warum können es sich so viele Menschen wirtschaftlich nicht leisten, Kinder zu bekommen? Warum herrscht in Deutschland eine oft beschämende Unvereinbarkeit von Beruf und Familie? Warum gibt es für Schichtarbeitende keine vernünftigen Kinderbetreuungslösungen? Warum ist die deutsche Bildungslandschaft in so beschämendem Zustand? Warum sind so viele Eltern jeden Tag durch die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zumutungen verzweifelt?

Weil Kinder und in der Folge ihre Eltern auf der Prioritätenliste entgegen aller Beteuerungen noch immer sehr weit hinten stehen. Und das liegt an der tief sitzenden, strukturellen Kinder- und Familienfeindlichkeit, der gleichen hasserfüllten Regung, die Tausende Menschen ernsthaft Pflastersteine gegen Kinderwägen verteidigen lässt.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten