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Schnelllese-App Spritz "Das Textverständnis leidet sehr"

Das Start-up Spritz erlebt einen gewaltigen Medienhype. Doch taugt die Schnelllese-App für den Alltag? Kann man damit tatsächlich "Harry Potter" in 77 Minuten lesen? Wir haben den Leseforscher Ralf Engbert gefragt.

Eine App, die die Art revolutioniert, wie wir lesen ? Die uns Texte bis zu viermal so schnell erfassen lässt? Über kaum eine Software wurde in den vergangenen Wochen so begeistert berichtet wie über Spritz . Ab Mitte April dürfte die Schnelllese-App zahlreichen Smartphone-Nutzern begegnen: Sie soll auf Samsungs kommendem Flaggschiff-Handy Galaxy S5 vorinstalliert sein und auch die Smartwatch Galaxy Gear 2 soll Spritz standardmäßig an Bord haben . Ein Entwickler-Kit  macht es aber auch anderen Firmen möglich, Spritz in ihr Angebot einzubauen.

Wie genau die Lese-App funktioniert, erklärt unser Video: Die Besonderheit ist ein Display, in dem jeweils ein Wort nach dem anderem erscheint, in regulierbarer Geschwindigkeit. Dadurch, dass das Auge nicht mehr von Wort zu Wort springen muss, sondern auf der gleichen Stelle im Display verharren kann, soll sich beim Lesen jede Menge Zeit sparen lassen.

Doch hat Spritz wirklich das Potential, das Leseverhalten vieler Menschen zu verändern? Wir haben einen renommierten Leseforscher gefragt.

Zur Person
Foto: Uni Potsdam

Ralf Engbert ist promovierter Physiker und arbeitet an der Uni Potsdam in der Abteilung für Allgemeine und Biologische Psychologie. Er forscht experimentell und mit mathematischen Modellen zur Sensomotorik und Aufmerksamkeit. Eines seiner aktuellen Projekte dreht sich um die Blicksteuerung beim Lesen.

SPIEGEL ONLINE: Herr Engbert, bei fast allen Testern stieß Spritz bislang auf positive Reaktionen. Die App scheint das Lesen tatsächlich schneller zu machen.

Ralf Engbert: Ja, Spritz funktioniert. Aus der Forschung wissen wir, dass wir beim Lesen üblicherweise länger auf einem Wort verweilen als für seine Verarbeitung nötig wäre. Experimente haben gezeigt, dass schon ungefähr die Hälfte der Fixationsdauer ausreicht. Diese Erkenntnisse macht sich Spritz zunutze - die App zeigt die Wörter gerade lange genug.

SPIEGEL ONLINE: Wie innovativ ist die Idee?

Engbert: Der wissenschaftliche Ansatz ist nicht neu. Im Prinzip basiert die Funktionsweise auf einer bekannten Technik, der Rapid Serial Visual Presentation . Ziel dabei ist es, Sakkaden zu vermeiden, das heißt: schnelle und spontane Augenbewegungen, die beim Lesen Zeit kosten.

SPIEGEL ONLINE: Auf der Spritz-Website heben die Macher hervor, dass das Display Wörter abhängig von ihrem "Optimal Recognition Point " (ORP) positioniert, dem Punkt, an dem der typische Leser das Wort erkennt.

Engbert: Dieses Beharren auf dem ORP dürfte Marketinggründe haben, in der Wissenschaft existiert der Begriff nicht. Der Punkt, den man fixieren muss, damit die Wortverarbeitung am schnellsten geht, ist als Effekt der Optimal Viewing Position (OVP) bekannt - ein etablierter Effekt, dazu wird seit Jahrzehnten publiziert. Man weiß, dass man Wörter ungefähr in der Mitte fixieren muss.

SPIEGEL ONLINE: Spritz präsentiert dem Nutzer immer nur einzelne Wörter. Wie wirkt sich das aufs Textverständnis aus?

Engbert: Es leidet sehr. Lesen ist nicht Hören, das ist eine andere Art der Sprachverarbeitung. Normalweise variiert die Lesegeschwindigkeit je nach Passage, gerade bei längeren Texten. Wer eine Geschichte verstehen will, macht sich beim Lesen Nebengedanken, die mentale Aktivität ist mehr als das Verstehen einzelner Wörter. Zehn Prozent aller Sakkaden sind rückwärtsgerichtet, man schaut also in die Textregionen, die man bereits gelesen hat. Das geht bei Spritz gar nicht.

SPIEGEL ONLINE: Spritz eignet sich also nicht zum Romanlesen?

Engbert: Ich halte es für völlig unplausibel, dass man "Harry Potter" in 77 Minuten lesen kann , wie manche Medien vorrechneten. Man würde die Story höchstens oberflächlich aufnehmen und könnte wohl nicht nachvollziehen, was den literarischen Wert des Buchs ausmacht. Oder stellen Sie sich eine Geschichte vor, in der langsam klar wird, dass der Erzähler ein Lügner ist - da müssten Sie sich bei jedem Satz Hintergedanken machen. Dafür ist es hinderlich, dass die App Ihre Aufmerksamkeit extrem auf den Wörterstrom fokussiert.

SPIEGEL ONLINE: Was bringt das Schnelllesen dann überhaupt, wenn es bei Büchern oder längeren Texten eher von Nachteil ist?

Engbert: Beim Lesen ist die Intention entscheidend. Prinzipiell ergibt es schon Sinn, sich Schnelllesetechniken anzugewöhnen, weil man gar nicht alle Texte gleich tief verarbeiten will. Und mit Spritz lassen sich Texte ja tatsächlich schneller lesen. Man darf nur nicht erwarten, dass das Zauberei ist, und man dieselben Informationen einfach nur schneller aufnimmt. In der Regel geht jede Geschwindigkeitssteigerung auf Kosten des Verständnisniveaus.

SPIEGEL ONLINE: Mit Spritz sollen theoretisch Lesegeschwindigkeiten von bis zu tausend Wörtern pro Minute möglich sein. Halten Sie das für realistisch?

Engbert: Im Alltag sind Lesegeschwindigkeiten von 250 bis 300 Wörter typisch, aber da geht schon mehr. Experimente legen nahe, dass das Limit ungefähr bei tausend Wörtern liegt. Die Wortverarbeitungszeit liegt dann bei 60 Millisekunden, normal sind circa 100.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass sich Spritz bei der breiten Masse durchsetzt?

Engbert: Eher nicht. Die App ist auf eine Sache optimiert: in möglichst kurzer Zeit einen Text durchscannen, bei nicht sehr hohem Verständnisniveau. Ihr Einsatz ist deshalb nur in Nischen sinnvoll, etwa fürs Übermitteln kurzer Nachrichten auf kleinen Displays. Dass mit Spritz Eilmeldungen oder E-Mails auf Smartwatches gelesen werden, halte ich am ehesten für plausibel.

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