Ein allerletzter Text über StudiVZ »Isch gruschle eusch« heißt es plötzlich auf der Trauerfeier

StudiVZ-Profil von Horst Schlämmer: Der berühmteste Sohn der Stadt Grevenbroich war der beliebteste Politiker im Netzwerk
Foto:StudiVZ
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Die hier beschriebene Trauerfeier existiert nur in der Fantasie des Autors. Das, was er über StudiVZs Geschichte, Funktionen, Profile und Gruppen sowie den Zustand des Netzwerks kurz vor Abschaltung beschreibt, ist aber real – und jeweils durch Links zu Quellen belegt.
Nur zwei Grad waren es in Berlin in jener Nacht zum 31. März 2022, dem letzten Tag von StudiVZ und MeinVZ und dem letzten vor der Löschung aller Nutzerdaten. Zum Ende der mehr als 16-jährigen Geschichte der beiden Netzwerke aber liefen ihre »Hochleistungsserver«, mit deren Kapazität die Betreiberfirma Poolworks noch 2022 prahlte , noch einmal heiß.
Ganz im Sinne der beliebten StudiVZ-Gruppe »Ich habe ein Motivationsproblem bis ich ein Zeitproblem habe« versuchten im Herzen ewige Studentinnen und Studenten, auf den letzten Drücker Fotos legendärer WG-Partys zu retten. Mit peinlichen Posen hatten sie gerechnet, nicht aber mit den miesen Auflösungen ihrer Nullerjahre-Digicams.
Mancher wollte auch nachforschen, was aus der Schönheit aus dem höheren Semester wurde, die ihm oder ihr einst in der Rubrik »Wer zuletzt deine Seite angesehen hat« erschien. Doch viele Nutzerinnen und Nutzern der VZ-Netzwerke – es waren einst 16 Millionen – haben sich längst in »gelöschte Personen« verwandelt.

Fotokommentar »Nay, wat süß!!!«: Dieser abgemeldete Nutzer merkte rechtzeitig vor dem Rausschmiss, dass die Party auf StudiVZ vorbei ist
Foto: StudiVZDen eigenen Nachfolger überlebt
Poolworks wollte StudiVZ schon 2020 dichtmachen. Spätestens seitdem hielten viele das Netzwerk für tot, genau wie Yahoo, ICQ und Myspace (die alle in irgendeiner Form weiter existieren ). Vielleicht erklärt das, warum an diesem Donnerstag nur einige Heavy User zum Steckerziehen gekommen sind.
Es sind Menschen, die sich 2020 weigerten, auf die offizielle Nachfolgeplattform VZ.net zu wechseln. So sehr, dass sich Poolworks 2021 entschied, für sie und ihre Leidenschaften wie Browsergaming und Cybersex die alten Netzwerke laufen zu lassen und seine Pläne für VZ.net einzustampfen . StudiVZ hat so zwar nicht Facebook, aber immerhin den eigenen Nachfolger überlebt – und sogar die Website WannstirbtStudivz.net . Sie prognostizierte das Aus für 2013.
Dem SPIEGEL erklärte Chefin Agneta Binninger Mitte März, StudiVZ und MeinVZ hätten sich »zuletzt nur noch als Gamingplattformen monetarisiert«: Der »Einbruch des russischen Marktes« habe sich auch in den Umsätzen ihrer Firma »bemerkbar gemacht«.
Hieß es nicht immer, die VZ-Netzwerke seien an ihrem Fokus auf Deutschland gescheitert?
»Ich glühe härter vor, als Du Party machst«
Die Zeremonie zur Abschaltung von StudiVZ ist kurz: Anhand vergilbter Immatrikulationsbescheinigungen wird zunächst geprüft, ob alle Anwesenden wirklich studiert haben. Für MeinVZ gibt es ein separates Event, immerhin. SchülerVZ war 2013 einfach so dichtgemacht worden.
Ungefähr ab damals ist auch in den Erwachsenennetzwerken die Zeit stehen geblieben. Noch letzte Woche gab es Beiträge in Gruppen zur Fußball-WM 2014, und auch »Der Graf«, der beliebteste Musiker der Plattform, singt auf StudiVZ weiter für die Band Unheilig , die er offline längst verlassen hat.
Nachdem alle Gäste der Trauerfeier – darunter eine Handvoll »gelöschter Personen«, die ihre Daten jetzt lieber von Instagram oder TikTok sammeln lassen – ihre Plätze eingenommen haben, werden wahllos bekannte Gruppennamen verlesen:
»Warum ich grinse...? Kopfkino!« (zum Schluss 225.745 Mitglieder)
»FAAAHR DOCH DA VORNE«, an dieser Stelle schaut der Vortragende kurz beschämt zu Boden, bevor er dann doch weiterschreit: »DU SPAST!! – Wir fluchen im Auto« (179.203)
»Ich leb in meiner eigenen Welt. Das ist OK, man kennt mich dort.« (157.480)
»Wir Dorfkinder wissen wenigstens noch, dass Kühe nicht lila sind.« (137.269)
»Wenn ich alt bin, werde ich nur nörgeln. Das wird ein Spaß.« (84.053)
»Ich glühe härter vor, als Du Party machst« (63.451)
»Meine Motivation rennt nackig mit 'nem Cocktail über die Wiese« (57.219)
»Früher konnten Frauen kochen wie Mutti – heute saufen wie Vati« (41.967)
»Ich wollte mich geistig duellieren, aber Du warst unbewaffnet!« (39.662)
Bei jedem dieser Gruppennamen nuschelt irgendwer »Stimmt, da war ich drin«. Nur von einer Gruppe mit 60.453 Mitgliedern ist an diesem Morgen niemand vor Ort: »Früh aufstehen ist der erste Schritt in die falsche Richtung.«
Lea gratuliert zum Geburtstag – immer gleich
Dafür ist, man glaubt es kaum, ein echter Plattformpromi gekommen: Karl-Theodor zu Guttenberg. Mit 34.623 Menschen, die sein sogenanntes »Edelprofil« mit ihren Likes noch weiter veredelt haben , war er bis zum Schluss der zweitbeliebteste Politiker auf StudiVZ – hinter einem gewissen Horst Schlämmer. Eigentlich aber ist Guttenberg die Nummer eins, denn auf Schlämmers Profil heißt es schon lange: »Horst ist weg! «

Profilseite von Guttenberg: Angeblich hatte er zu viele Lieblingsbücher, um sie alle aufzählen
Foto: StudiVZIn seine Räume gelockt hat Poolworks den Blockchain-Fan KTG mit einem Haufen VZ-Buzzwords wie »OpenSocial Apps« – und der Aussicht auf eine letzte Begegnung mit einem hübschen VZ-Bot namens Lea, den angeblich 457.397 Leute »gut finden« . Dass Lea Nutzern Jahr für Jahr mit demselben Text zum Geburtstag gratulierte, erzählte man dem Ehrengast lieber nicht.

»Was-auch-immer-Du-Dir-wünschst im neuen Lebensjahr«: Beim ersten Mal wirkte Leas Gratulation vielleicht noch originell
Foto: StudiVZNur einer weint
Nach dem Verlesen der Gruppen wird die Historie von StudiVZ als anfangs sehr erfolgreicher Facebook-Klon skizziert, es geht auch um millionenfach installierte Spiele-Apps wie »Frohe Ernte« . Im Hintergrund weint jemand, der mal für Holtzbrinck arbeitete.
Die Verlagsgruppe hatte StudiVZ 2007 für 85 Millionen Euro gekauft . Wenige Jahre später jedoch sah sie das Netzwerk nur noch als Ramschware, die es wieder loszuwerden galt . Laut einem ehemaligen Facebook-Manager hat Holtzbrinck 2007 übrigens die rückblickend unfassbar attraktive Offerte abgelehnt, den Dienst gegen fünf Prozent der Anteile an Facebook einzutauschen.
Auch StudiVZs Skandale kommen bei der Trauerfeier kurz zur Sprache, darunter Finanz- und Belästigungsprobleme. Letztere erklären, warum in den Netzwerken explizit ungefragtes »Massengruscheln« untersagt war .
Eine 3D-Welt zum Chatten und Verlieben
Als es um StudiVZs Tiefpunkte geht, meldet sich aus dem Publikum eine »gelöschte Person«. Sie sagt, sie sei enttäuscht, dass die »VZ 3D Welt«, eine Chatwelt innerhalb des Netzwerks zum »Chatten & Verlieben«, nicht mehr erreichbar sei.

Werbebanner für die »3D VZ World«: Ja, der Autor musste auch erst googeln, was genau das noch gleich war
Foto: meinvz.netEs beschäme sie auch, dass der Schalter »Neues StudiVZ/Altes StudiVZ«, der ständig auf der Seite erscheint, überhaupt nicht mehr ins »neue StudiVZ« führe, wird die »gelöschte Person« lauter. Als sie dann noch von Adobes Flash Player schwärmt, wird allen klar: Sie gehörte mal zum Betreiberteam, das allein zwischen 2010 und 2015 von 300 auf 15 Mitarbeiter geschrumpft war.
Netzwerk-Chefin Binninger hört zu, verweist aber nur kurz auf ihre zwei Wochen alte Stellungnahme. Die Plattformen seien »technisch so veraltet«, hatte sie darin betont, »dass eine Modernisierung wirtschaftlich keinen Sinn macht.«
Und dann kommt Horst Schlämmer
Zum Schluss der zähen Zeremonie, von der sich viele mit WhatsApp-Nachrichten abgelenkt haben, wird es ernst. Wenn er schon da ist, soll Guttenberg die Netzwerkabschaltung in Gang setzen. Hundertprozentig sicher, ob StudiVZ diesmal wirklich offline geht, ist aber niemand.
Und gerade als Guttenberg auf den »Raus hier«-Button drücken will, kommt tatsächlich etwas dazwischen: Horst Schlämmer ist zurück. Im grauen Mantel stürmt er in den Raum und sagt: »Isch gruschle eusch.«
Für alle überraschend kündigt er an, StudiVZ zu kaufen und passend zu Hape Kerkelings aktuellem Bestseller über Katzen weiterzuführen – als KittyVZ. Der Applaus der Cybersex-Fans ist verhalten. Doch StudiVZ startet in sein gefühlt siebtes Leben.