
Massenmediale Ansteckung Der coronavirale Angststurm

Schneller als das Coronavirus 2019-nCoV verbreitet sich derzeit nur die Angst davor. Denn mit den Eigenheiten sozialer und redaktioneller Medien lassen sich normale psychologische Reaktionen vortrefflich verstärken.

Flugzeug-Desinfektion
Foto: ATHIT PERAWONGMETHA/ REUTERSDas Coronavirus 2019-nCoV ist nicht nur ein Krankheitserreger. Es steht auch für ein weltweites Gesellschaftsereignis neuen Typs: den globalen Angststurm. Die Regungen dahinter sind uralt, aber Geschwindigkeit, Verlauf und digitalsoziale Interaktionen sind es nicht. Hier entstehen Social-Media-getriebene Mechanismen, über deren Neben- und Spätwirkungen wir wenig wissen. Ironischerweise wird die schnelle Verbreitung von Inhalten im Netz "viral" genannt, aber wie sich soeben beobachten lässt, funktionieren globale Angststürme umfassender. Hier möchte ich versuchen, die Umrisse dieses Globalisierungsphänomens vernetzter Gesellschaften zu beschreiben.
1. Massenangst: Eigentlich soll Angst als evolutionäres Gefahrenwerkzeug die Sinne schärfen und Menschen handlungsfähig machen, aber sozialmedial transportierte Anlässe der Massenangst basieren selten auf unmittelbaren Bedrohungen. Deshalb handelt es sich eigentlich um eine Angstprojektion: Was wäre wenn? Hier beginnt das Problem, denn Menschen sind einerseits außerordentlich schlecht darin, Gefahren und Wahrscheinlichkeiten realistisch einzuschätzen. Und andererseits öffnet die Frage "Was wäre wenn?" die Möglichkeit, jede Irrationalität auszuleben.
2. Synchronizität: Aus einem angstmachenden Anlass kann nur ein globaler Angststurm werden, wenn das Gefühl der Gleichzeitigkeit entsteht: Ich bin genau jetzt Teil eines weltweiten Geschehens. Dieser Schritt wird medial ausgelöst, dabei lässt sich zwischen redaktionellen und sozialen Medien kaum trennen.
3. Betroffenheitsgefühl: Der globale Angststurm braucht einen Anlass, von dem sich alle betroffen fühlen können, und sei es nur sehr theoretisch. Eine ansteckende Krankheit ist deshalb gewissermaßen der Protoanlass. Denkbar sind aber auch Terror, wirtschaftliche Krisensituationen, Kriege, Fluchtbewegungen, Umweltkatastrophen, technische Großunfälle oder digitale Notlagen.
4. Hyperemotionalisierung: Aus dem kollektiven Betroffenheitsgefühl destilliert sich die Hyperemotionalisierung: ein anhaltender, hochemotionaler Alarmzustand. Dabei werden der Grad der Betroffenheit und die Gefahr selbst übertrieben. Soziale Medien sind dafür eh gut geeignet, aber die Rolle klassischer Medien, vor allem des Boulevards, darf nicht unterschätzt werden: Es gibt eine Ökonomie der Hyperemotionalisierung. Kollektive Erregungszustände nutzen oft denen, für die Aufmerksamkeit eine wirtschaftliche Bedeutung hat (wie für Influencer, Experten, Medien wie SPIEGEL.de oder für mich), was ein ungelöstes Problem darstellt. Die digitale Beschleunigung der Medien trägt dazu bei. Eilmeldungen etwa vermitteln unabhängig vom Inhalt schon als Format eine gewisse Hyperemotionalisierung.
5. Angstabwehr: Die Hyperemotionalisierung wirkt inzwischen so schnell und umfassend, dass sie eine in sozialen Medien beobachtbare Gegenreaktion erzeugt: Angstabwehr. Die Lawinen naheliegender Gags ("Corona ist ein mexikanisches Bier, hihi") gehören zur Angstabwehr, ebenso Aufrufe, die Kirche im Dorf zu lassen – meist ohne Argumente, dafür mit Aspekten der Autosuggestion. Eine Subkategorie der Angstabwehr ist die Selbstberuhigung, bei der die Gefahr vermeintlich rational einsortiert wird: "2019 starben x Millionen Menschen an Grippe/Unfällen/Dackelbissen, das ist viel gefährlicher". Es handelt sich um Irrationalität im Gewand des aufgeklärten Realismus, denn eine neue, noch unverstandene Gefahr lässt sich selten sinnvoll mit bekannten und deshalb leichter bekämpfbaren Gefahren vergleichen. Zur Angstabwehr gehören auch öffentliche Ratschläge wie "Wascht eure Hände". Leider können solche Aufforderungen Angststürme verstärken, weil sie die Notwendigkeit zu handeln für das gesamte Publikum suggerieren.
6. Einordnung: Die Einordnung ist eine Phase, in der das Netz seine Magie eher positiv ausspielen kann. Zu jeder Gefahrenlage gibt es Fachleute, und deren Wortmeldungen werden vor allem auf Twitter rasch weltweit verbreitet. Das funktioniert zwar nach dem Anscheinsprinzip, ob ein Account nach Expertise aussieht oder nicht. Trotzdem ist durch die Korrektivwirkung der Crowd die Qualität der Einordnung manchmal überraschend hoch - wenn auch nicht immer: Wissenschaftler der Johns Hopkins University stellten einen oft verbreiteten "Echtzeittracker" der bekannten Coronavirus-Fälle ins Netz . Von der Farbgebung (schwarz-rot) bis zur Entscheidung, auf der Weltkarte die 3.500 Fälle in Hubei (China) etwa so groß darzustellen wie Nord- und Südkorea zusammengenommen, schreit die Website: Alarm! Auch die Wissenschaft kann oder will sich nicht immer dem Sog der Hyperemotionalisierung entziehen.
7. Projektion: Auf Grundlage der Einordnung sucht die Öffentlichkeit Anhaltspunkte für die künftige Entwicklung der Gefahr. Der Bau eines Krankenhauses für Corona-Infizierte in China innerhalb von zwei Wochen ist ein solcher Anhaltspunkt, ebenso die Isolierung von Millionen Menschen in Wuhan. Beides scheint auf größte Gefahr hinzudeuten, obwohl zumindest ein Teil der Radikalität dieser Maßnahmen auch in Chinas Totalitarismus begründet ist. Es fällt aber selbst nüchtern Beobachtenden schwer, solche aus Katastrophenfilmen bekannten Großoperationen nicht als Alarmzeichen zu begreifen. Denn, auch das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, noch ist im konkreten Fall vergleichsweise wenig bekannt. Weshalb die umfassenden, internationalen Maßnahmen durchaus gerechtfertigt erscheinen. Zum Angststurm tragen sie ungewollt trotzdem bei. Auch das ein Muster des neuen Phänomens: Jede Vorsicht, jede Vorsorge kann von der Öffentlichkeit zur Bestätigung der schlimmsten Gefahrenlage umgedeutet werden. Dass Präsident Xi das Coronavirus "einen Teufel" nannte , war jedoch eher keine Hilfe zur Eindämmung des globalen Angststurms.