Daniel Domscheit-Berg produziert Gesichtsvisiere "Wir überlegen, ob wir in ein Fünf-Kilometer-Gummiband investieren"

In ihrer offenen Werkstatt in Brandenburg produzieren Daniel und Anke Domscheit-Berg Gesichtsvisiere für medizinisches Personal. Der Bedarf ist riesig, sagt der ehemalige WikiLeaks-Sprecher.
Ein Interview von Patrick Beuth
Daniel Domscheit-Berg im Verstehbahnhof

Daniel Domscheit-Berg im Verstehbahnhof

Foto: HC Plambeck

Apple produziert sie bereits millionenfach, Volkswagen druckt zumindest Teile: Wiederverwendbare Gesichtsvisiere ergänzen die Schutzausrüstung von Ärztinnen, Pflegern und anderen, die mit Sars-CoV-2-Infizierten in Berührung kommen. Sie bestehen aus einer stabilen, mit gängigen Mitteln desinfizierbaren Folie, die am Kopf befestigt wird, sind undurchlässig für Tröpfchen und verhindern zudem das Berühren des Gesichts mit den Händen.

Die Nachfrage ist riesig, wie Daniel Domscheit-Berg weiß. Der ehemalige WikiLeaks-Sprecher hat zusammen mit seiner Frau, der Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg und einigen anderen im brandenburgischen Fürstenberg den Verein havel:lab gegründet und den Verstehbahnhof aufgebaut, eine Werkstatt mit 3D-Druckern und Lasercutter. Dort fertigen sie nun selbst Gesichtsvisiere. In Kooperation mit mehreren anderen solcher Makerspaces sind es bis zum Osterwochenende 12.000 für Abnehmer in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin geworden.

Am Telefon erklärt er, wie es dazu kam und was man eigentlich dazu braucht.

SPIEGEL: Herr Domscheit-Berg, warum stellen Sie jetzt Gesichtsvisiere im Verstehbahnhof her?

Daniel Domscheit-Berg: Mitte März hat der 3D-Drucker-Hersteller Prusa eine Open-Source-Bauanleitung veröffentlicht . Der wurde dann mit Schwarmintelligenz auf verschiedenen Internetseiten weiterentwickelt: Wie wird das Ganze stabiler, wie kann man es schneller produzieren? Wir haben das mitbekommen und weil wir im Verstehbahnhof gerade eh nicht viel machen können, haben wir halt angefangen zu drucken.

SPIEGEL: Für wen denn überhaupt?

Domscheit-Berg: Als wir die erste Charge fertig hatten - die bestand noch aus Laminierfolie, weil die das einzige war, was wir auf die Schnelle organisieren konnten - habe ich meinen Zahnarzt gefragt, ob er so etwas gebrauchen kann. Und der war total aus dem Häuschen. Also haben wir beschlossen, alle zu versorgen, die sich bei uns melden. Die Lokalzeitung berichtete darüber , und innerhalb von zwölf Stunden haben rund zwei Dutzend Pflegeheime, Arztpraxen und Krankenhäuser angefragt, zum Teil hätten sie gerne mehrere Hundert Visiere gehabt.

SPIEGEL: Was braucht man, um ein Gesichtsvisier zu bauen?

Domscheit-Berg: Es sind drei Teile: eine Halterung aus Kunststoff, ein Band, mit dem man sie am Kopf befestigt, und ein Visier aus Folie. Das Band kann aus Gummi sein, wir haben mit Silikon experimentiert, und unser Optiker in der Stadt hat uns 500 Neopren-Bänder aus seinem Lager vorbeigebracht.

Gesichtsvisiere, produziert im Verstehbahnhof

Gesichtsvisiere, produziert im Verstehbahnhof

Foto: havel:lab e.V.

SPIEGEL: Wie kommt man so auf 12.000 Stück?

Domscheit-Berg: Es kamen immer mehr Anfragen, das Deutsche Rote Kreuz in der Mecklenburgischen Seenplatte zum Beispiel wollte 700 Stück. Die Zahlen wurden zu groß, diese Erkenntnis ist früher oder später wohl bei allen Werkstätten und Makerspaces in Deutschland angekommen. Wir in Brandenburg organisieren uns über civilize.it , dort haben wir gemeinsam über Spritzguss als alternative Produktionsweise nachgedacht. Dabei stellte sich heraus, dass es in Sachsen eine Initiative der Werkstatt "Kunststoffschmiede " gibt, die das 3D-Drucker-Design in ein Spritzguss-Design überführt hat. Die Firma 1st Mould Rapid Tools  hat dann in absurd kurzer Zeit das passende Werkzeug hergestellt, einen Prototyp gespritzt - und dann 12.000 Halterungen für uns hergestellt.

SPIEGEL: Woher bekommen Sie das Material?

Domscheit-Berg: Gummi und Folien sind absolute Mangelware. Bisher haben wir in 25-Meter-Rollen gedacht, davon habe ich vergangene Woche noch vier Stück gefunden. Wir überlegen jetzt, ob wir in ein Fünf-Kilometer-Gummiband investieren, das würde für 15.000 Schilde reichen.

SPIEGEL: Und die Folien?

Domscheit-Berg: Manche versuchen es mit Fensterglasfolie aus dem Baumarkt, mit Overheadfolie aus Acetat, Laminierfolien oder alle Arten von Klarsichtfolien. Das haben wir auch ein paar Tage lang probiert. Ich habe dann im Internet nach Firmen gesucht, die Visierfolien herstellen, und eine in Mönchengladbach und eine bei Stuttgart gefunden, Bleher heißt die. Die habe ich an einem Donnerstag angerufen und ihnen erklärt, was wir machen. Die fanden das gut, und am Montag darauf stand eine Palette bei uns vor der Tür. Das war phänomenal. Daraus machen wir mit unserem 17 Jahre alten Lasercutter jetzt die Visierfolien.

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SPIEGEL: Wie schnell geht das?

Domscheit-Berg: Inklusive Folienwechsel brauchen wir eine Minute und 20 Sekunden für drei Visiere. Das ist eigentlich total ineffizient. Deshalb kümmern sich jetzt die Leute von der machBar in Potsdam  darum, jemanden zu finden, der die Folien stanzen kann. Und ich habe einen industriellen Locher gekauft, in der Hoffnung, dass wir die Zeit einsparen können, die der Lasercutter braucht, um die Löcher zu schneiden.

SPIEGEL: Sie bekommen dafür kein Geld vom Staat - warum eigentlich nicht?

Domscheit-Berg: Ich glaube nicht, dass es böser Wille ist. Sondern einfach komplette Unkenntnis darüber, wie die Realität aussieht, mit wie viel Enthusiasmus und in welchen Dimensionen die Zivilgesellschaft gerade helfen kann. In Brandenburg gibt es zum Beispiel ein Landesförderprogramm, das auch für Vereine gilt – aber nur für Vereine mit wirtschaftlichem Betrieb. Den haben wir als gemeinnütziger Verein aber nicht. Kaum eine offene Werkstatt hat so etwas, deshalb sind wir alle auf Spenden angewiesen .

Der Verstehbahnhof ist ein Makerspace im ehemaligen Bahnhofsgebäude von Fürstenberg an der Havel

Der Verstehbahnhof ist ein Makerspace im ehemaligen Bahnhofsgebäude von Fürstenberg an der Havel

Foto: HC Plambeck

SPIEGEL: Und damit können Sie die Produktion der Visiere letztlich finanzieren?

Domscheit-Berg: Wir haben zwei große Bestellungen von Landkreisen. Es gibt da einen Riesenunterschied, was sie uns in Form einer Spende zukommen lassen könnten – das wäre fast nichts und kein bisschen kostendeckend – und dem, was sie zahlen, wenn wir einfach eine Rechnung schreiben. Also schreiben wir eine Rechnung, so wird es kein Verlustgeschäft. Aber wir sind weit weg von den Traumpreisen auf dem freien Markt.

SPIEGEL: Was würden Sie sich wünschen?

Domscheit-Berg: Erstens, dass das Ansehen von dezentralen Strukturen, seien es offene Werkstätten oder digitalen Bildungsangeboten, einen anderen Stellenwert bekommt. Darin liegt ein riesiges Potenzial. Zweitens eine Strukturförderung: Ganz oft können wir uns nur auf Förderprogramme bewerben, wenn wir darlegen, warum wir etwas Neues machen wollen. Aber wir wollen ja das Bestehende, das funktioniert, besser machen und ausbauen. Drittens ein Demokratiefördergesetz mit Budgets, um sinnvolle Strukturen zu fördern.

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