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Homeboy Electronics Recyling

Foto: Sonja Peteranderl/ DER SPIEGEL

E-Recycling Elektroschrott als zweite Chance

Ehemalige Häftlinge und Gangmitglieder reparieren bei Homeboy Electronics Recycling in Los Angeles nicht nur alte Computer - sondern auch ihr Leben.
Aus Los Angeles berichtet Sonja Peteranderl

Anthony Mondragon ist ein gut gelaunter junger Mann mit kurzrasierten Haaren, er trägt Glitzerohrringe, eine schwere Kette um den Hals und eine Schutzweste über seinem Hoodie. Aber was er sagt, klingt düster: "Wenn ich in meiner Gang geblieben wäre, dann hätte ich bis jetzt mit Sicherheit jemanden umgebracht und wäre für den Rest meines Lebens im Gefängnis".

Mondragon steht in der Fabrikhalle von Homeboy Electronics Recycling im heruntergekommenen Stadtzentrum von Los Angeles. Es sieht hier in der Gegend nicht gerade nach Zukunft aus. Obdachlose Menschen schlafen am Straßenrand oder in Zelten, überall liegt Müll herum. In der Fabrikhalle stapeln einige Männer Kabel, Computer, Batterien, Telefone und elektronischen Abfall in Kartons. Sie sortieren Elektroteile, die repariert oder weiterverwertet werden, aber auch ihr eigenes Leben. Homeboy Electronics Recycling gibt jenen eine Chance, die anderswo keine mehr haben. Menschen, die jahrelang im Gefängnis saßen, abgehärtete Gangmitglieder, die der Rest der Gesellschaft längst aufgegeben hat. Menschen wie Mondragon.

Er wirkt erwachsener als seine 21 Jahre, musste sich schon als Kind allein durchschlagen. "Als ich klein war, haben wir neben einem Friedhof gewohnt, und wenn meine Mutter mal wieder zugedröhnt war, hat sie immer gesagt: Da wirst du landen", erinnert er sich. "Wenn du ganz auf dich allein gestellt aufwächst, wird dein Herz kalt und dir wird irgendwann alles egal." Jetzt wühlt er in Kartons, die bis an den Rand mit Platinen gefüllt sind, und spricht begeistert darüber, wie faszinierend er es findet, in das Innenleben von Computern zu blicken, das alte Leben der Maschinen, aber auch Datenspuren auf Festplatten zu erforschen und sie zu löschen.

Arbeit statt Kugeln

Es sind verlorene Kinder wie Anthony, für die Gregory Boyle in Los Angeles Homeboy Industries aufgebaut hat. Mittlerweile ist es das größte Resozialisierungsprogramm der Welt und hat mehr als 10.000 Ex-Insassen und Gangmitgliedern beim Ausstieg geholfen, mit einer Reihe von Projekten und Unternehmen vom Café bis zum Modelabel oder eben E-Recycling.

Der Jesuitenpriester mit der beruhigenden Stimme, den alle nur Father G nennen, wirkt wie ein gemütlicher Weihnachtsmann, aber seine Predigten treffen den Nerv einer zerrissenen Gesellschaft. Seine "Homies" haben Respekt vor ihm, statt mit abgehobenen Psalmen erreicht er sie mit Offenheit, hört ihnen zu, will von ihnen lernen. Ende der Achtzigerjahre erlebte er als Pastor der Dolores Mission Church in Los Angeles, wie im Gangkrieg der verarmten Gemeinde reihenweise Jugendliche starben. Statt immer neue Kreuze für sie aufzustellen, gründete er 1992 das erste Homeboy-Projekt - eine Bäckerei, in der rivalisierende Gangmitglieder bis heute gemeinsam Brötchen backen. Father Gs Mission: "Nothing stops a bullet like a job" - Arbeit statt Kugeln.

Dealen und Diebstähle für die Gang

Anthony Mondragons älterer Bruder wurde mit neun Jahren Mitglied der lokalen US-Latino-Gang "Avenues". So geriet auch der damals siebenjährige Anthony in den Dunstkreis der Gang, die sein Viertel kontrollierte, Glassell Park im Nordosten von L.A. Er flog von der Schule, weil er mit Marihuana dealte und sich prügelte, war an Autodiebstählen beteiligt und ging für die Gang ins Gefängnis.

Er sei "zur falschen Zeit am falschen Ort" gewesen, als der Besitzer eines Autos bei dem Diebstahl verletzt wurde, sagt er. Weil er den Täter nicht verraten wollte, musste er einsitzen - 25 Jahre bis lebenslang. In den USA werden auch gegen jugendliche Gangmitglieder harte Strafen verhängt, wenn sie mehrfach gegen das Gesetz verstoßen.

Father G sucht sich die Menschen heraus, mit denen sonst niemand etwas zu tun haben will, er predigt auch in Gefängnissen - dort lernte Anthony ihn kennen. Mit 15 Jahren wurde er entlassen, nachdem er Berufung eingelegt hatte - und der eigentliche Täter gestanden hatte. Seine damalige Freundin arbeitete bei Homeboy und überzeugte ihn, ein neues Leben zu beginnen.

Zeit, zu heilen

Wer zum Ausstieg bereit ist, durchläuft ein 18-monatiges Programm. Erst bekommen die Homies Zeit, zu heilen, sie gehen zur Gruppentherapie, absolvieren Anti-Aggressions-Trainings. Berater finden gemeinsam mit ihnen heraus, wo ihre Talente liegen, was sie von ihrem neuen Leben wollen, jenseits von Gangs und Gefängnismauern. "Sie helfen dir bei allem, was du willst", sagt Anthony. "Trotzdem ist es hart, plötzlich einen anderen Weg zu gehen, wenn du deine Leute die ganze Zeit siehst, in ihrer Nachbarschaft lebst."

Alle Homies müssen anfangs Putzdienste übernehmen, um sich daran zu gewöhnen, dass sie kein schnelles Geld mehr mit Drogen und anderen kriminellen Geschäften verdienen. Dann werden sie je nach Interessen in den Unternehmen eingesetzt.

Datenlöschung und Dienste für Hollywood

Anthony Mondragons Kollege Esteban Godinez, der wegen Heroinbesitzes knapp 25 Jahre Haft absitzen musste, war erst skeptisch, als er von Homeboy hörte: "Ich dachte, dass ich hier wieder auf die Leute treffe, mit denen ich die letzten 25 Jahre im Gefängnis saß", sagt der 60-Jährige - "Gangmitglieder und Drogensüchtige." Jetzt ist er froh, dass ihn die Arbeit ablenkt, er fände nichts schlimmer, als untätig herumzusitzen. "Ich finde immer etwas zu tun, wenn jemand ein Problem mit einem Computer hat, helfe ich, hole Teile, gieße Pflanzen oder fahre Kisten herum."

Bei Homeboy Electronics Recycling arbeiten derzeit 27 Festangestellte, dazu rund ein Dutzend Auszubildende, die gerade das Trainingsprogramm durchlaufen. Regierungsbehörden, Kanzleien, Krankenhäuser, Schulen, aber auch Bewohner der umliegenden Viertel lassen Elektroteile abholen oder bringen sie vorbei. Dann werden die Geräte je nach Zustand sortiert, repariert, zerlegt oder an Firmen weiterverkauft, die Metalle aus dem Elektromüll extrahieren.

Auch einen Datenlöschservice bietet die Firma an, Festplatten werden kleingeschreddert. Antike oder besonders absurde Elektrogeräte landen manchmal in Hollywood: In Regalen stapeln sich Telefone mit Wähltasten aus mehreren Jahrzehnten, alte Macs, Blackberrys und Siebzigerjahre-Fernseher, die sich Produktionsfirmen ausleihen können. Alle Gewinne fließen wieder in das Resozialisierungsprogramm.

Anthony Mondragon ist seit zwei Jahren fest bei Homeboy Electronics Recycling angestellt. Parallel studiert er auf einem College in Pasadena Maschinenbau. Er liebt schnelle Autos, will irgendwann ein eigenes Unternehmen haben. Aus seinem Viertel ist er mittlerweile weggezogen. "Ich habe nie gedacht, dass ich mal ein gesetzestreuer Bürger werde, einen Job habe, aufs College gehe", sagt er." Das Beste ist, dass ich dieses Wissen irgendwann mal mit meinen Kindern teilen kann." Seine Erinnerungen lassen sich nicht so leicht löschen wie die Daten auf den Festplatten, die er bei Homeboy Electronics Recycling zerstört - "aber das, was ich erlebt habe, hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin."

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