Handy-Umgangsformen Eltern, hört auf zu motzen!

Kinder mit Smartphones: Überforderte Kinder, überforderte Eltern?
Foto: CorbisMeine Kinder sind noch zu klein für ein eigenes Handy. Das ist ein enorm entspannender Zustand, aber er wird nicht ewig anhalten. Eines Tages werden sie ein Smartphone haben wollen - oder was auch immer man dann benutzt, um mobil zu kommunizieren und aufs Internet zuzugreifen.
Sie werden sagen: "Aber alle in meiner Klasse haben eins!" und "Wie soll ich mich sonst mit den anderen verabreden?" und "Wer keins hat, den schließen die anderen aus". Und wir werden irgendwann nachgeben und akzeptieren, dass man ohne Smartphone eben nicht mehr existieren kann heutzutage, schon gar nicht als Teenager. Zumindest hoffen wir, dass wir das noch so lange hinauszögern können.
Die Landeszentrale für Medien Nordrhein-Westfalen hat eben die Ergebnisse einer Umfrage zu diesem Thema vorgestellt . 500 Kinder und Jugendliche von 8 bis 14 und jeweils ein Elternteil wurden dazu befragt, wie sie ihre Telefone nutzen, was dabei Probleme macht und wie sich das auf die Schule auswirkt. Das sei für die Altersgruppe repräsentativ, sagen die Autoren. Die Ergebnisse werden am Donnerstag in diversen Medien erwartungsgemäß unter dem Rubrum Suchtgefahr verarbeitet. "Faz.net" zum Beispiel spricht von der "digitalen Versuchung in der Hosentasche".
Immer gleich mal eine klinische Diagnose zur Hand
Dabei steht gleich zu Beginn der Zusammenfassung, worum es den meisten Jugendlichen eigentlich geht: "Insbesondere die Kommunikation mit Gleichaltrigen - durch Instant Messaging sowie Telefonieren - nimmt stark zu." Mit anderen Worten: Wenn diese Jugendlichen nach irgendetwas süchtig sind, dann danach, sich mit ihren Freunden zu unterhalten. Es gibt Schlimmeres.
Abgesehen davon war das bei uns früher auch schon so, nur haben wir eben wegen stundenlangen Telefonierens Ärger mit den Eltern bekommen, nicht wegen WhatsApp.
Auf wirklich problematische Weise nutzen Smartphones zudem nur vergleichsweise wenige der Befragten: Etwa acht Prozent seien "so stark involviert, dass sie als suchtgefährdet bezeichnet werden müssen", schreiben die Autoren. An dieser Stelle sei bemerkt, dass "Handysucht" als diagnostische Kategorie auch in den neuesten Einstufungsmanualen für Psychologen und Psychiater nicht existiert. Was daran liegt, dass viele Wissenschaftler der Meinung sind, dass eine solche Kategorie einfach keinen Sinn ergibt, und es an Forschung mangelt, die sie rechtfertigen würde. Für die meisten Eltern wäre es vermutlich ohnehin klüger, sich unerwünschtem Verhalten ihrer Kinder erst einmal anders zu nähern als mit einer klinischen Diagnose.
"Beziehungsqualität zum Kind"
Die Studie zeigt aber auch, dass Handys natürlich tatsächlich Probleme im Alltag verursachen. Knapp die Hälfte der Befragten haben sie schon einmal von den Hausaufgaben abgelenkt - gut, das bekam man früher auch anders ganz gut hin. 42 Prozent haben schon einmal "unüberlegt Daten preisgegeben", knapp ein Viertel schon einmal "Kommunikationsstress empfunden". 20 Prozent berichten von schulischen Problemen wegen ihrer Handynutzung. Außerdem gibt es Mobbing und andere digitale Formen der Gemeinheit, wenn auch vergleichsweise selten.
Und dann sind da die Nöte die Eltern. Viele leiden "unter wahrgenommener Machtlosigkeit, Kontrollverlust und Überforderung", weil die Kinder ständig mit ihren Handys zugange sind.
Die entscheidenden Sätze stehen auf Seite 7 der Zusammenfassung der Ergebnisse (PDF) : Schützend wirke sich "die Fähigkeit zur Selbstregulation aus. Ist sie stark ausgeprägt, sind Kinder und Jugendliche in der Lage, das Handy achtsam und zuträglich für ihr eigenes Wohlbefinden und das der anderen im Alltag einzusetzen."
Und da sind wir dann wieder bei uns, liebe Eltern. Setzen wir selbst denn unsere Handys immer "achtsam und zuträglich für unser eigenes Wohlbefinden und das der anderen" ein? Mal ehrlich.
Später schreiben die Autoren, neben Erziehungsmaßnahmen habe "insbesondere das Vorbildverhalten der Eltern und ihre Beziehungsqualität zum Kind Einfluss auf den Umgang mit dem Handy".
Genau.
Der Prozess, der sich im Moment vollzieht, bereitet der Gesellschaft deshalb solche Schwierigkeiten, weil er ein nie zuvor dagewesener ist. Wissen Sie noch, wann das erste iPhone auf den Markt kam? Na?
Es war 2007.
Mobiles Internet für den Normalanwender gibt es also seit weniger als acht Jahren. In diesen acht Jahren hat es unser Sozialverhalten und unseren Alltag sichtbar umgekrempelt. Sinnlose Streitgespräche über Fakten ("Gibt es unterschiedliche Versionen der 10 Gebote?") konnten sich früher lange hinziehen, heute werden sie mit einmal Googeln beendet. In U-Bahnen starren die Leute nicht mehr auf unhandliche Zeitungen, sondern auf handliche Telefone. Und viele von uns haben elementare Höflichkeitsregeln augenscheinlich vergessen.
Wie Steinzeitmenschen mit Messer und Gabel
Darum geht es nämlich im Kern: Die Etikette, die Vorstellung davon, was anständiges Benehmen ist, schafft es nicht, mit der exponentiell verlaufenden Entwicklung mitzuhalten. Und das liegt nicht an vermeintlich handysüchtigen Jugendlichen, es liegt an uns. Wir haben selbst keine Handymanieren, es hat uns ja auch nie jemand welche beigebracht. Wir benehmen uns im Umgang mit dem mobilen Netz wie Steinzeitmenschen, denen man zum ersten Mal Messer und Gabel in die Hand drückt. Dass dabei keine ordentlichen Tischsitten herauskommen, kann kaum verwundern.
Es ist an uns selbst, an der Generation, die jetzt Kinder großzieht, im Eiltempo eine neue Etikette zu entwickeln. So schwer ist das eigentlich auch gar nicht, wenn man sich an die Ur- und Grundmotivation aller Höflichkeit erinnert: Seinen Mitmenschen das Leben möglichst angenehm zu machen, sofern man das kann. Deshalb hält man jemandem die Tür auf, deshalb fällt man Gesprächspartnern nicht ins Wort, deshalb spricht man nicht mit vollem Mund.
Anwesenden ist der Vorzug zu geben
Von der Grundfrage aus, was für das eigene Gegenüber unangenehm sein könnte, lassen sich sinnvolle Umgangsformen und sogar Lebensregeln ableiten, die auch im Smartphone-Zeitalter Gültigkeit haben. Zum Beispiel: Wenn du mit jemandem von Angesicht zu Angesicht sprichst, sei nicht so unverschämt, währenddessen plötzlich und kommentarlos deine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm deines Handys zu richten. Das kannst Du selbst bei Anderen doch auch nicht leiden. Es ist verblüffend, wie wenige erwachsene (!) Menschen diese simple Regel derzeit beherzigen.
Die gleichen Erwachsenen aber regen sich über Kinder und Jugendliche auf, die ständig auf vermeintlich unangemessene Weise mit ihren Handys herummachen. Wenn Sie selbst es nicht schaffen, beim Mittagessen das Telefon außer Sichtweite zu lassen, wie sollen es Ihre Kinder dann lernen? Ihre Ellenbogen legen Sie ja auch nicht auf den Tisch.
Wenn Sie selbst bereitwillig jedes Gespräch mit Ihren Kindern pausieren lassen, weil gerade eine WhatsApp-Nachricht hereingekommen ist, wie sollen ihre Kinder auf die Idee kommen, es anders zu machen? Wenn Sie selbst am Strand oder auf dem Spielplatz ständig ihre Mails checken, wie sollen Ihre Kinder lernen, dass man das während der Hausaufgaben oder beim Gespräch mit Freunden lieber lassen sollte?
Es ist an der Zeit zuzugeben, dass Smartphones nicht wie eine unkontrollierbare Urgewalt über unsere Gesellschaft hereingebrochen sind, der wir hilflos ausgeliefert sind. Es ist an der Zeit, uns schleunigst auf Regeln zu einigen, an die wir uns dann auch selbst halten. Simple Regeln wie "Anwesenden ist im Gespräch gegenüber Abwesenden der Vorzug zu geben, außer es handelt sich um einen Notfall".
Wir brauchen eine neue Etikette, und niemand außer uns selbst kann sie entwickeln. Und sie wird sich auch nur dann durchsetzen, wenn wir sie selbst vorleben.