Die Sensorenresidenz Diese Wohnung verrät ihre Bewohner

Wer ist wann zu Hause? Wann geht die Freundin ins Bett, wann zur Toilette? Das Smart Home von Marco Maas meldet kleinste Details seines Privatlebens an die Gerätehersteller. Sehen Sie hier die genaue Auswertung der Datenflut.
Maas am Handy, Wu am Klavier: Honeywell weiß immer Bescheid

Maas am Handy, Wu am Klavier: Honeywell weiß immer Bescheid

Foto: Maxim Sergienko

Wenn bei Marco Maas und Yong-Er Wu das Internet ausfällt, erfährt Marco das von Honeywell. Das ist der Hersteller der Thermostate, die in der Wohnung der beiden die Temperatur regeln. Honeywell schickt dann, nach nur sieben Minuten, eine E-Mail aus den USA aufs Handy: Es gebe "keine Verbindung mehr zum am unten genannten Standort installierten Heizsystem". Honeywell weiß immer, was bei Marco und Yong-Er gerade los ist. Zwischen den Thermostaten und der Firma fließen gut sieben Megabyte Daten hin und her - pro Tag.

Mehr Details über das Eigenbau-Smart-Home von Marco und Yong-Er lesen Sie hier.

Die Thermostate sind nicht die einzigen Geräte in der Wohnung, die ständig über das Internet Informationen preisgeben, aber sie sind besonders gesprächig: Jede Sekunde meldet so ein Thermostat seinem Hersteller, dass er noch da ist. Die Daten, die eine vollvernetzte Wohnung wie diese produziert, ergeben ein detailliertes Bild des Privatlebens der Bewohner. Ein Smart Home ist auch eine sehr effektive Anlage zur Überwachung. Das ist wichtig, schließlich wollen zahlreiche Unternehmen diese Art von Technik als neuen De-Facto-Standard etablieren.

"Die Leute wissen nicht, mit welchen Überwachungsmöglichkeiten sie sich umgeben"

Marco und Yong-Er leben schon heute in dieser Zukunft. Die Geräte in ihrem Heim sind miteinander vernetzt, Heizung und Licht lassen sich übers Smartphone steuern, die Wohnung registriert, wenn jemand die Tür öffnet oder das Wohnzimmer betritt. Das ist bequem und hat Vorteile, aber nicht nur die. "Die meisten Leute wissen gar nicht, mit welchen Überwachungsmöglichkeiten sie sich umgeben", sagt Marco. "Ich will das deshalb an mir selbst ausprobieren und zeigen."

Auch seine Freundin ist sich der Datenflut in ihrem Zuhause durchaus bewusst. Nur hat sie - anders als er - gar nicht alle nötigen Apps auf ihrem Smartphone, um die Geräte in der Wohnung zu steuern. "Er könnte mich also komplett überwachen - ich ihn aber nicht", sagt sie.

Marco Maas und seine Kollegen von der Agentur OpenDataCity  haben für SPIEGEL ONLINE alle Daten aufgezeichnet, die in seiner Wohnung anfallen. Die Zahlen, die dabei herauskamen, haben sogar ihn selbst überrascht. Die smarten Steckdosen etwa tauschen manchmal mehr als sechs Megabyte (MB) pro Tag mit fernen Servern aus. Die WLAN-Lampen von der Firma Philips noch mal mehr als ein Megabyte. Zum Vergleich: Ein reines Textdokument mit einer Größe von einem MB umfasst knapp 1000 Seiten. Das smarte Heim schickt jeden Tag das Äquivalent einer kleinen Bibliothek ins Netz.

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Smart Home O: Das schlaue Heim zum Durchklicken

Foto: Maxim Sergienko / Agentur Focus

Ob jemand zu Hause ist oder nicht, spielt dabei kaum eine Rolle. Die Smart-Home-Zentrale von SmartThings zum Beispiel, die diverse Geräte miteinander vernetzt, hat manchmal akuten Kommunikationsbedarf, obwohl gar keiner da ist. Am 14. November um die Mittagszeit zum Beispiel war das der Fall.

Solche Informationen zeigt die folgende Grafik im Detail.

Wie viele Daten schicken die einzelnen Geräte nach Hause, wie viele empfangen sie? Im unteren Bereich können Sie einzelne Tage anklicken, um zu sehen welche Datenmengen zu diesem Datum über den Tag hinweg angefallen sind. Die Daten stammen aus dem November.

Mit dem Dropdown-Menü rechts kann man sich Gerät für Gerät ansehen, wie viel Datenverkehr es verursacht. Laptops, Smartphones und Tablets lassen sich zum Beispiel ausblenden, das ist auch die Standardeinstellung, denn es geht hier ja vor allem um die anderen Geräte. Wer an dem jeweiligen Tag zu Hause war, verrät der Hintergrund: Ein helleres Grau steht für sie. Dunkelgrau bedeutet: beide sind da. Bei weißem Hintergrund war die Wohnung menschenleer.

Wenn jemand im Haus ist, produziert oft die Musikanlage die meisten Daten, denn Marco und Yong-Er hören ihre Musik übers Netz.

Doch selbst, wenn niemand zu Hause ist, bleibt die Wohnung aktiv. Das zeigt sich zum Beispiel in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November. Yong-Er ist unterwegs, vielleicht auf einer Halloween-Party - oder beim Arbeiten? Jedenfalls kommt sie erst gegen 3.30 Uhr nach Hause. Die Wohnung aber war die ganze Nacht über gesprächig - vor allem Steckdosen und Heizung haben fleißig nach Hause telefoniert, besonders zwischen 1:45 und 3 Uhr nachts. Kaum ist Yong-Er hereingekommen, gibt es den größten Ausschlag gleich wieder von der Musikanlage.

Unsere zweite, animierte Grafik zeigt, welche Räume zu welcher Zeit betreten, welche Geräte genutzt wurden.

Die Silhouetten stehen für Marco und Yong-Er. Rot bedeutet: da, weiß bedeutet: weg. Räume, die betreten werden, färben sich rot, bei Nacht wird der Hintergrund grau. Lampen, die brennen, erkennen Sie an ihrem roten Rand. Den Zeitstrahl unten können Sie jederzeit anhalten oder mit dem kleinen Regler links unter der Play-Taste langsamer, schneller oder rückwärts laufen lassen.

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Noch ein Beispiel für das, was die Wohnung verrät, wenn man Zugriff auf all diese Daten hat: Am Mittwoch den 20. August waren beide daheim, es muss ein ruhiger Tag gewesen sein. Am Vorabend sind die beiden offenbar spät nach Hause gekommen. Vielleicht hat Marco gearbeitet, am Schreibtisch brannte Licht, auch in Küche und Bad waren die Lampen an. Sonst kaum Bewegung. Womöglich lag einer von beiden krank im Bett? Ein Indiz dafür könnte die ungewöhnliche hohe Frequenz der Badezimmer-Besuche am Vormittag sein. Ein Magen-Darm-Infekt?

Jedenfalls tut sich stundenlang nichts, keine Bewegung ist zu sehen bis zum Nachmittag: Yong-Er geht. Vorher noch einmal kurz ins Bad, zurück ins Wohnzimmer, durch den Flur, nochmal zurück und schließlich hinaus. Marco bleibt allein, das Licht brennt in Küche, Bad, Wohnzimmer und Büro, wo er offenbar am PC sitzt, bis es dunkel wird. Später hält er sich viel im Wohnzimmer auf, bis Yong-Er um kurz nach Mitternacht wieder nach Hause kommt.

All das erzählt die Wohnung über ihre Bewohner. Natürlich bleibt es mit den bloßen Daten ein Rätselraten, was genau sich zu einer bestimmten Zeit abgespielt hat. Aber schon mit ein paar Zusatzinformationen wird der Datensatz zum Schatz.

Das Alibi "Ich saß den ganzen Abend vor dem Fernseher" dürften weder Lebenspartner noch Strafverfolger glauben, wenn der Bewegungsmelder im Wohnzimmer gar nicht angeschlagen hat oder der Fernseher keine Aktivität an seine Server übermittelt hat. Das gilt aber selbst dann, wenn die Technik in Wahrheit kaputt war oder manipuliert wurde.

Eine Nachfrage erklärt alles

In unserem Fall erklärt Marco auf Nachfrage: "Man wird oft sehen, dass Yong-Er tagsüber schläft und nachtaktiv ist, weil sie spätabends arbeitet" unter anderem als Kartengeberin beim Poker. Tags ist dann entsprechend wenig Bewegung zu sehen. Wie vermutet: Sie lag im Bett - wenn auch nicht krank.

All diese Daten fließen durchs Netz. Sie sind, sofern die Übertragung nicht sicher verschlüsselt wird, durch den Internetprovider einzusehen. Dass die Geräte mit ihren Herstellern kommunizieren, kann der Provider in jedem Fall wissen, und natürlich auch jeder, der sonst Zugriff auf diese Daten hat. "Stichwort Vorratsdatenspeicherung", sagt Marco Maas.

Viel Information fließt natürlich auch zu all den Firmen, mit deren Servern die Geräte kommunizieren. Philips etwa könnte meist wissen, wann bei Marco und Yong-Er jemand zu Hause ist. Um Zugriff auf alle Daten auf einmal zu bekommen, so wie wir das hier demonstriert haben, müsste man vermutlich rabiater vorgehen - etwa, indem man sich Zugriff auf das WLAN in der Wohnung verschafft.

Für Marco Maas ist das Thema Datenschutz entscheidend. Eine smarte Wohnung verrate so viel über ihre Bewohner, dass es gelte, "Regeln auf den Weg zu bringen, dass ich selbst darüber entscheiden kann, was mit meinen Daten passiert".

"Na und?" werden sich jetzt vielleicht manche fragen. Was sagt das schon aus? Wo ist die Gefahr? Wir haben einen Profi-Hacker gebeten, sich die smarte Wohnung einmal aus der Nähe anzusehen.

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Mitarbeit: Christina Elmer, Chris Kurt
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