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Paranormale PR: Das "Folge dem Kaninchen"-ARG

Alternate Reality Games Schnitzeljagd zwischen den Welten

Mysteriöse Briefe, gruselige Akten, rätselhafte Websites - plötzlich landet man in einer Parallelwelt voll Verschwörungen und übersinnlicher Phänomene. Alternate Reality Games verbinden reale und digitale Welt zur Schnitzeljagd. Meist geht es um PR, trotzdem macht es Spaß. Ein Augenzeugenbericht.

Einen dicken A-4-Briefumschlag ohne Absender bekommt man nicht alle Tage. Als ich das Kuvert öffne, purzelt mir eine vergilbte Akte entgegen. Unter der Überschrift "Analysebericht" steht da in Schreibmaschinentype: "Der Proband war mit Rasiermesser- und Brandwunden übersäht. Messungen im Hochfrequenzbereich bestätigen paranormale Aktivitäten." Daneben klebt das Foto eines kleinen Jungen.

Die Akte enthält noch mehr seltsames Zeug - Gehirndiagramme, kryptische Zahlenfolgen, geometrische Symbole. Mir wird mulmig. Es kommt durchaus vor, dass irgendwelche Eigenbrötler ihre Verschwörungstheorien als hektografiertes Manuskript in die Redaktion schicken.

Aber das hier? Woher haben die meine Privatadresse?

Dann schwant mir, dass mein Spiel gerade begonnen hat.

Wochen zuvor habe ich mich im Netz für ein sogenanntes Alternate Reality Game (ARG) angemeldet, eine Art moderne Schnitzeljagd. Die Macher des Spiels, die im ARG-Jargon Puppet Master genannt werden, also Strippenzieher, veröffentlichen fortlaufend Hinweise, denen die Spieler folgen müssen. Die Puzzleteile können im Internet zu finden sein, den Spieler aber auch per Telefon, Post oder auf ganz andere Weise erreichen.

Werbung, die keine sein möchte

Das alles verbindende Element ist das Internet. In meiner Akte finden sich mehrere Namen sowie der Hinweis, "der Proband" sei "ins Seth-Programm" aufgenommen worden. Ich google ein bisschen und lande schnell in einem Forum, in dem sich schon Menschen zusammengefunden haben, denen ebenfalls Patientenakten zugespielt wurden.

Schnell ist klar, was den Reiz des ARG ausmacht: Teamwork. Im Forum werden Daten abgeglichen, Hypothesen diskutiert, Codes geknackt. In der Akte klebt ein Notizzettel mit einer seltsamen Nummernfolge, hinter der sich eine Internetadresse verbirgt. Alleine würde ich das nicht herausfinden.

Organisiert hat das ARG mit dem Titel "Folge dem Kaninchen"  Thomas Zorbach, Gründer der Firma VM People. VM steht für virales Marketing, doch Zorbach möchte ungern als Chef einer Werbeagentur bezeichnet werden. "Mit klassischer Werbung hat das hier nichts zu tun." Seit Juli 2009 haben er und sein Team die Gesamtdramaturgie erarbeitet, seit Februar wird die "Story gefahren".

ARGs bleiben für die Masse der Menschen meist unsichtbar, weil die Zahl der aktiven Spieler in der Regel 25 kaum überschreitet. Hinzu kommen eventuell 100 bis 200 weitere Personen - Leute wie ich, die zu faul sind, stundenlang Rätsel zu knacken, aber Spaß daran haben, die sich entfaltende Geschichte zu verfolgen.

Hunderte Menschen in Joker-Kostümen

Die anderen Teilnehmer meines ARGs haben inzwischen jeden Stein umgedreht. Im Web haben sie alte Super-8-Filme gefunden, in denen eine weißbekittelte Psychologin paranormale Experimente mit Kindern durchführt  und die an die Stationsfilme aus der TV-Serie "Lost" erinnern. Außerdem sind sie über den Blog eines Graffiti-Künstlers namens Omega gestolpert, der irgendwie mit der Geschichte zu tun hat. Er hat übersinnliche Fähigkeiten und träumt von einem brennenden Riesenrad. Mit der Akribie von Forensikern prüfen die ARG-Profis seine Web-Seite: "Hab den Quellcode durchforstet", schreibt einer. "Weißt du noch irgendeine Möglichkeit, da mehr Infos rauszubekommen?"

Als Ur-ARG gilt eine Promoaktion für den Spielberg-Film A.I namens "The Beast". Seit die mächtig einschlug, ist die ARG-Erzählform schon fast ein Standardinstrument moderner PR. Der MIT-Professor Henry Jenkins hat für sie den Begriff "transmediales Storytelling" etabliert.

Als bis dato spektakulärstes ARG gilt "Why so serious?",  eine Werbeaktion für den Batman-Film "Dark Knight". Die Puppenspieler animierten Hunderte Fans dazu, in Joker-Kostümen durch San Diego zu laufen. Und sie versteckten auf einer Web-Seite GPS-Koordinaten - wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, konnte einen Kunstflieger beobachten, der eine Telefonnummer in den Himmel schrieb. Der teuerste Schnitzeljagd-Schnipsel der Geschichte.

Das Kaninchen-ARG ist bei weitem nicht so aufwendig, wartet aber trotzdem mit Überraschungen auf. Nachdem ich die Diskussion im Forum einige Tage lang nicht verfolgt habe, fällt mir auf dem Weg zur Arbeit ein Graffiti auf. Es handelt sich um einen Paste-up , der einen brennenden Totenschädel vor einem Riesenrad zeigt. Unten rechts sehe ich ein griechisches Omega. Plötzlich bin ich wieder mitten im Spiel. Wie viele von diesen Paste-Ups gibt es? Bilden sie auf dem Stadtplan vielleicht ein Muster?

Ein Spiel, das keines sein möchte

Der Leitspruch der ARG-Gemeinde lautet: "This is not a game" - "Dies ist kein Spiel". Anders als bei einem Rollenspiel gibt es keine Auszeiten. Das ARG kann einen überall einholen, in Form mysteriöser Graffitis oder nächtlicher Telefonanrufe. Außerdem ist es eher selten, dass man sich für ein ARG anmelden kann. Stattdessen gibt es sogenannte Rabbit Holes, auf Deutsch in etwa Hasenbaue - in Anlehnung an Lewis Carrolls "Alice im Wunderland". Gemeint sind Hinweise, über die Unbeteiligte in das Spiel hineinstürzen.

Auf meinem Omega-Graffiti steht am Rand eine URL vermerkt, über die man den ersten Hinweis erhält. Als Droemer Knaur 2008 einen Thriller des Autors Sebastian Fitzek bewerben wollte, stellte der Verlag elf Bloggern ungefragt eine Pizza zu. In der Schachtel befand sich ein Rabbit Hole in Form eines USB-Sticks.

Meine Co-Spieler haben über Omegas Blog inzwischen seine Schulkameradin Floh ausfindig gemacht und treffen sich mit ihr in Hamburg. Nach einer Onlinephase findet das Spiel nun offline statt. Mehrere Spieler verfolgen einen mysteriösen Mann, den sie den Flüsterer nennen und der vorher schon in einem der Web-Videos zu sehen war. Der Unbekannte entkommt, verliert aber sein Handy - auf dem später mehrere MMS mit Hinweisen eintreffen werden.

Wenn Großkonzerne ARG veranstalten, kann es peinlich werden

Zorbach ist mit dem Verlauf seines ARG ganz zufrieden. Engagiert hat ihn der Verlag Chicken House, der mit der Aktion Werbung für seinen Deutschlandstart und den ersten Titel "Numbers" machen möchte. In dem Jugendbuch geht es um ein Mädchen mit übersinnlichen Fähigkeiten.

Aber lässt sich so Auflage produzieren? "Es geht vor allem darum, einen Notenschlüssel für den Verlag zu setzen", sagt Zorbach. Dieser könne mit dem ARG zeigen, dass er eher ungewöhnliche Wege beschreite.

Wer sich ein wenig umschaut, merkt allerdings rasch, dass ARG im Mainstream angekommen sind. Große Markenartikler haben das Thema für sich entdeckt. Es gab schon ARG von McDonald's, Roland Berger und Tchibo - und sogar eines der Waschmittelmarke Spee. Was dabei herauskommt, wirkt oft gezwungen und mitunter dämlich.

Bei Spee sollten die Spieler laut Pressetext "den schrecklichen Plan eines Dr. Grau verhindern, der drohte, alle Farben zu zerstören". Wer den ARG-Ansatz für derartige Bratkartoffel-PR kapert, bekommt keine Positiv-Publicity, sondern erntet Hohn und Spott. "Das Ding war ein absoluter Flop", urteilt beispielsweise Werbeblogger.de  über das Tchibo-Spiel. Die meisten ARG-Fans interessieren sich schließlich vorrangig für das Abenteuer, das ihnen geboten wird - das dahinterstehende Produkt ist ihnen schnurz.

Beim Chicken-House-Spiel soll das Werbliche deshalb im Hintergrund bleiben. "So was törnt die Leute ab", sagt Zorbach. Beim Finale Mitte März werde es zwar eine Auflösung und Hintergrundinformationen geben - im Vordergrund stehe jedoch der Austausch zwischen Spielern und Produzenten.

Denn die Teilnehmer, sagt Zorbach, wollten nach dem Ende ihres ARG vor allem eines: noch offene Rätsel lösen und über ihre Hypothesen fachsimpeln.

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