
»Assassin's Creed: Valhalla«: Der Macho-Wikinger hat ausgedient
»Assassin's Creed: Valhalla« im Test Der Macho-Wikinger hat ausgedient
Irgendwo im Norwegen des 9. Jahrhunderts drängt sich der Spieler durch ein prall gefülltes Langhaus. Um ihn herum feiern hartgesottene Krieger ein wildes Fest, Methörner prosten sich zu, Veteranen messen sich im Armdrücken. Dann gerät die Menge in Aufruhr, der Nachbar-Clan greift an. Hähnchenkeulen werden durch Äxte ersetzt und statt Trinksprüchen ertönen die Kampfschreie nach »Ruhm«, »Ehre« und »Valhalla« - die Jenseitsfantasie der Nordmänner.
In dieser ersten Spielstunde scheint es, als präsentierte »Assassin's Creed: Valhalla« genau das, was man von einem Wikinger-Videospiel erwarten darf: ein muskelprotziges Abenteuer, das von Bärten, Kampfpathos und Haudrauf-Charakteren beherrscht wird. Nachdem ich das Historienabenteuer rund 100 Stunden später aber durchgespielt habe, stelle ich fest: Dieses Spiel ist anders. »Assassin's Creed« hinterfragt die Stereotypen und Klischees, die viele mit der Welt der Wikinger verbinden und zeichnet so ein zwar nicht durchgehend gelungenes, aber überraschend buntes und modernes Bild. Und das ist viel wert.
Ein spannender Spielplatz
Aufhänger für diese Generalüberholung ist nicht irgendeine Spielereihe, sondern eines der bekanntesten, langlebigsten und kommerziell erfolgreichsten Franchises der Branche. Seit 2007 hat Ubisoft mehr als ein Dutzend Spiele veröffentlicht, die sich um die immergleiche Fantasie drehen: Der Spieler taucht als Anhänger eines mystischen Assassinen-Ordens in prominente Kapitel der Menschheitsgeschichte ein, besucht aufwändig rekonstruierte Spielwelten, lernt historische Persönlichkeiten kennen und meuchelt Hunderte Bösewichte, unaufmerksame Wachen und wilde Tiere.
Seitdem im Alten Ägypten spielenden »Assassin's Creed: Origin« (2017) schlägt die Reihe allerdings einen Ton an, der alte Fans überraschte und mit dem neue Spieler gewonnen werden konnten. Die Spielwelten wurden größer, die Charaktere humorvoller, Romantik und Sexualität gewannen an Wichtigkeit – mal als Running Gag in einer flachhumorigen Nebenmission, mal als prägender Charakterzug virtueller Mitstreiter.
Umso interessanter erscheint da der Schauplatz, den Ubisoft für »Assassin's Creed: Valhalla« auserwählt hat: Norwegen und die englischen Königreiche von Mercia, Northumbria, Wessex und East Anglia, wo lokale Machthaber mit Neuankömmlingen, Siedlern und Räubern aus Skandinavien in erbitterte Machtkämpfe verstrickt sind. Es ist eine Welt, die in der Popkultur noch immer mit Klischeebildern von rauhbeinigen Männern, Macho-Phantasien und misogynen Heldenfiguren belegt ist. Zwar haben progressivere Serien wie die US-amerikanische Produktion »Vikings« zuletzt auch starke Frauenfiguren wie die Schildmaiden Lagertha etabliert, doch insbesondere in der Spielewelt gehörte der hohe Norden bislang den Männern. Es ist wohl der größte Verdienst von »Assassin's Creed: Valhalla«, dass es diese überholten Verhältnisse endlich auf den Kopf stellt.
Das beginnt schon bei der Wahl des Spielcharakters. Nach dem Prolog im Langhaus, dessen Feiergemeinschaft vom Nachbar-Clan überfallen wird, darf der Spieler entscheiden, ob Titelheld »Eivor« Mann oder Frau ist. Alternativ kann er diese Entscheidung auch dem Spiel überlassen, das dann mal den männlichen, mal den weiblichen Charakter zur Hauptfigur macht.
Was hier noch zwischen den Zeilen steht, wird in den folgenden Dutzenden Spielstunden immer wieder ganz deutlich gesagt: In der Welt der Wikinger, wie Ubisoft sie entworfen hat, sind beide Geschlechter gleichgestellt. Frauen kämpfen neben Männern, gleichgeschlechtliche Beziehungen sind akzeptiert, Krieger dürfen weinen, Kriegerinnen ganze Armeen anführen. So dekonstruiert »Assassin's Creed: Valhalla« Geschlechterbilder, die mit Blick in die Vergangenheit immer wieder reproduziert und zementiert werden. Das ist erstaunlich revolutionär für ein millionenschweres Videospiel wie »Assassin's Creed« - und alles andere als erwartbar.
Diese Dekonstruktion wirkt noch mehr, weil sich zumindest die Hauptgeschichte von »Assassin's Creed: Valhalla« sehr, sehr ernst nimmt: Als Neuankömmling in Südengland wird der Spieler nicht nur mit dem Auf- und Ausbau seiner eigenen Siedlung vertraut gemacht, sondern mischt auch bei nahezu allen machtpolitischen Konflikten des Landes mit. Er hilft Königen auf den Thron, schlägt marodierende Plünderer in die Flucht, trauert um verstorbene Freunde und verliebt sich in einen Mitstreiter (oder fünf, sechs, sieben, acht, wenn man das denn will).
Ton und Stimmung dieser Hauptquest, die mehr als 30 Stunden Spielzeit einfordert, ist überwiegend ernst und spürbar von Serien- und Filmvorbildern wie »Vikings« inspiriert. Es sind die weit über 100 Nebenquests überall in der Spielwelt, die in diese getragene Ernsthaftigkeit nicht nur Witz und Charme, sondern auch eine gehörige Portion Wahnsinn einstreuen. Diese Mischung schmeckt sicherlich nicht jedem.
Prakti-Plünderer üben den Ernstfall
So erobere ich in der Hauptquest finster dreinblickend feindliche Burgen, leiste Eide und bekämpfe Räuber, um dann in einer Nebenquest auf ein seltsames Wikinger-Paar zu stolpern. Die zwei Männer wollen plündern üben und haben sich als Trainingsziel ihr eigenes Elternhaus ausgewählt. Um den Fake-Raubzug möglichst überzeugend zu gestalten, soll der Spieler das Haus anzünden, bevor das Wikinger-Duo hineinstürmt und »losplündert«.
Doch kaum brennt das Dach, gibt es ein Problem: Die beiden Krieger scheitern an der fest verschlossenen Tür und flehen nun den Spieler an, in das Haus einzubrechen und die Kostbarkeiten vor den Flammen zu retten. Irgendwie witzig, aber auch ein Hauch von Slapstick, der in solchen Nebenquests immer wieder zu finden ist.
An anderer Stelle treffe ich eine Frau, die über das schlaffe Glied ihres Mannes klagt. Nur eines könne dem Veteranen dabei helfen, seine Lust wiederzufinden: ein vorgetäuschter Überfall. Also wird das Haus des Ehepaares kurzerhand angezündet; woraufhin sich im Flammenmeer ein Liebesspiel entwickelt.
Die Ähnlichkeiten der beiden Nebenmissionen sind dabei nicht zufällig, sondern Symptom eines Schemas: Immer wieder bemüht und zitiert »Assassin's Creed: Valhalla« in seinen Nebenquests klassische Wikinger-Klischees, um sie dann zu persiflieren. Das ist zweimal, vielleicht sogar fünfmal lustig, rutscht aber bald auf das Humor-Niveau eines Provinzkabaretts, das mit Schenkelklopfern und »Dick und Doof"-Charme vergeblich punkten will.
Neben dieser häufig unangenehmen, fast peinlichen tonalen Spannung zwischen Haupt- und Nebengeschichten lähmt »Assassin's Creed: Valhalla« den Spieler vor allem am Anfang mit langatmigen Gesprächen, wenig interessanten Herausforderungen und einem Spannungsbogen, der eher einer müden Kurve gleicht. Rund 15 Stunden braucht das Spiel, um sich aus diesem langatmigen Antritt zu befreien und endlich eine interessante Dramaturgie zu entwickeln.
Eine große Geduldsprobe, die sich aber auszahlt: Denn nach dieser Zeitmarke erzählt Valhalla eine wendungsreiche, interessante und spannende Story, die von Männern wie Frauen gleichermaßen getragen wird – und die so nicht nur der historischen Überlieferung, sondern auch modernen Spielansprüchen gerecht wird.