Virtuelle Welten Wie viel Politik passt in ein Videospiel?

Kriege, Flüchtlingskrisen, Umweltzerstörung und Kämpfe gegen Diktatoren: In Computerspielen geht es oft um Politik. Doch viele Hersteller wollen keinesfalls politisch wirken. Nun wagt sich einer vor.
»Battlefield 2042«: Der Multiplayer-Shooter spielt in einer Welt nach dem Klimakollaps

»Battlefield 2042«: Der Multiplayer-Shooter spielt in einer Welt nach dem Klimakollaps

Foto: EA Dice

Die Welt der nahen Zukunft ist apokalyptisch. 2035 zerbricht die EU, die Klimakatastrophe macht über eine Milliarde Menschen zu Flüchtlingen. Gewaltige Stürme und steigende Meere lassen Demokratien stürzen, Blackouts und der Ausfall von Satelliten tragen zum Chaos bei. Im Kampf um die letzten Ressourcen entbrennen Stellvertreterkriege auf der ganzen Welt, in der Antarktis, in Südkorea, Westafrika und den Ruinen von Katar. Die Kämpfer rekrutieren sich aus Flüchtlingsheeren.

Was klingt wie die düstersten Prognosen pessimistischer Klimaforscher oder schriller Aktivisten, ist das Setting für ein Spiel. »Battlefield 2042«, erst kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt, lässt seine Spielerinnen und Spieler als Söldner in diesem Konflikt kämpfen, in riesigen Multiplayerschlachten. Eine Story gibt es abseits der apokalyptischen Rahmenhandlung nicht, der Fokus liegt auf Action.

Bemerkenswert: Ein Videospiel warnt vor der Klimakatastrophe, mit schockierenden, eindringlichen Bildern. Oder etwa doch nicht?

»Das hier ist nur ein Multiplayerspiel. Wir wollten einfach mehr Spektakel und riesige Ereignisse. Das Setting passt dazu perfekt«, sagt Design Director Daniel Berlin in einem Interview mit der Branchenseite IGN . Der schwedische Spieleentwickler EA DICE, der die Battlefield-Reihe entwickelt, nimmt damit die klassische Haltung der Games-Industrie zu diesem Thema ein: Politische Settings, Themen und Motive werden in den Spielen wohl verwendet – als Kommentar auf reale Ereignisse, Umstände und Entwicklungen sei aber nichts davon zu verstehen. Ganz zu schweigen von einer Botschaft, die damit vermittelt werden soll. Klimakatastrophe, Flüchtlingskrisen, Krieg? Alles nur Tapete.

Alles nur Spaß

»It’s just an entertainment product«, so lautete auch die stehende Antwort auf die Frage nach Politik in den Spielen des Branchenriesen Ubisoft. Ein neuer amerikanischer Bürgerkrieg samt brennendem Kapitol in »The Division 2«, der Kampf gegen rechtsextreme Milizen im Hinterland des US-Bundesstaats Montana in »Far Cry 5«, Undercover-Drogenkrieg amerikanischer Spezialkommandos in Bolivien in »Ghost Recon Wildlands«: Alles nur Unterhaltung, frei von jeder politischen Aussage, wie Ubisoft-Mitarbeiter wieder und wieder mantraartig bestätigten.

Beim ebenfalls neu vorgestellten sechsten Teil der »Far Cry«-Reihe wird das ebenfalls beteuert. Der Open-World-Shooter soll diesmal auf einer fiktiven, optisch Kuba nachempfundenen Karibikinsel spielen, die von »El Presidente« Antón Castillo, dargestellt von dem aus »Breaking Bad« bekannten Schauspieler Giancarlo Esposito, regiert wird. Als Widerstandskämpfer nimmt man in »Far Cry 6« den bewaffneten Kampf gegen diesen Diktator auf.

Fotostrecke

Politik in Videospielen

Foto: Ubisoft

Eine echte »guerilla fantasy« solle »Far Cry 6« werden, schwärmte Narrative Director Navid Khavari. Um die Story und Charaktere möglichst realistisch gestalten zu können, reisten die Autoren nach Kuba und sprachen dort mit Zeitzeugen und ehemaligen Guerillakämpfern, wie das denn so gewesen sei, an einer Revolution teilzunehmen.

Und trotzdem: Ein politisches Statement wolle man nicht damit abgeben, schon gar nicht über das vom längsten andauernden Handelsembargo in der modernen Geschichte betroffene Kuba; das sei eine »komplizierte Insel«.

Flucht nach vorn

»Far Cry 6« – eine Guerillafantasie zwischen historischer Authentizität und Unterhaltungsprodukt? Auch hier, so enttäuschte Kritiker, habe der Milliardenkonzern Ubisoft wieder einmal Angst vor der eigenen Courage bekommen. Und vor dem Publikum, das regelmäßig lautstark protestiert, wenn es etwaige politische Botschaften wittert.

»Keep your politics out of my games«, bitte keine Politik in Spielen – damit ist allgemein die Ablehnung plumper politischer Propaganda gemeint, vor allem von linksliberaler Seite. Dass Spiele oft politisch eindeutig konservative bis rechte Weltbilder verbreiten, stört hingegen kaum einen Fan; etwa wenn – wie bei Ubisofts zahlreichen Franchises – der Bestsellerautor und republikanische Held Tom Clancy im Namen prangt.

Umso mehr überraschte ein Blogeintrag auf Ubisofts Webseite, der unter dem Titel »The Politics of Far Cry 6«  für Aufklärung sorgte. Und das schon mit dem allerersten Satz: »Ja, unsere Geschichte ist politisch«, verkündete Khavari und trat damit die längst fällige Flucht nach vorn an. »Eine Geschichte über eine moderne Revolution muss [politisch] sein. In Far Cry 6 gibt es harte, relevante Diskussionen über die Bedingungen, die zum Aufstieg des Faschismus in einer Nation führen, über die Kosten des Imperialismus, über Zwangsarbeit, die Notwendigkeit freier Wahlen, über LGBTQ-Rechte und vieles mehr, alles im Kontext unserer fiktiven Insel Yara.«

Was es hingegen nicht gebe, so Navid Khavari, seien einfache, binäre politische Statements, vor allem zum aktuellen politischen Klima in Kuba.

Was banal und selbstverständlich klingt, ist keine Kleinigkeit. Immerhin kann das millionenschwere Hochglanzsegment der Games-Branche seine stets wachsenden Entwicklungskosten nur dann wieder einspielen, wenn möglichst keine potenzielle Käufergruppe verärgert wird. Der waffenbegeisterte Trump-Fan mittleren Alters soll im Bestfall das Produkt ebenso kaufen wie politisch völlig anders denkende Menschen in Europa und am besten auch in China, wo es auf ganz andere Sensibilitäten Rücksicht zu nehmen gilt.

Verantwortung übernehmen

Lange hat die Industrie deshalb einfach geleugnet, dass ihre Spiele, die so gern die reale, komplexe Welt immer fotorealistischer abbilden, auch politische Aussagen über diese Welt treffen – ob sie es beabsichtigen oder nicht. Ein »Far Cry«, das sich eingesteht, dass seine wieder und wieder erzählten Geschichten von Revolution, Diktatur und Imperialismus selbstverständlich politisch sind, das ist tatsächlich neu und überfällig. Der Schritt, so klein er von außen betrachtet sein mag, ist schwergefallen. Und er wird, wie das Beispiel von Battlefield 2042 zeigt, längst nicht von allen mitgegangen.

Dabei ist es letztlich unerheblich, ob die Macher von »Battlefield 2042« mit der gezeigten Klimaapokalypse eine politische Botschaft beabsichtigen oder nicht. In Zeiten, in denen politisch und gesellschaftlich heftig um genau diese Schreckensvision und die Methoden ihrer Abwehr gekämpft wird, ist ihre virtuelle Version mehr als nur eine Kulisse.

Wie viel Politik passt in ein Spiel? So viel, wie es eben hergibt. Denn entscheidend ist letztlich die Interpretation: Ob man eine zerstörte Erde voller Flüchtlingskrieger als drastisch warnenden Aufruf zum Handeln, als überzeichnete Fantasy ohne Realitätsgehalt oder als ohnehin nicht mehr aufzuhaltende Zukunft sieht, ist eine der zentralen politischen Fragen der Gegenwart. Und die Antwort darauf geben nicht die Spiele, sondern ihr Publikum.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren