
Spieleforscherkonferenz: Nerdiger als jede Videospielmesse
Konferenz der Brettspielforscher Warum Römer mit dem Knochenturm würfelten
Haar - Es beginnt mit Adam und Eva: Auf einem Gemälde aus dem Jahr 1300 sitzen sie vor einem Brettspiel. Möglicherweise zumindest, man kann das Spiel nicht genau erkennen. "Das Bild stammt aus einer norwegischen Kirche", erzählt der erste Referent des Tages bei der Konferenz "Board Game Studies" , einem internationalen Treffern der Brettspielforscher. Der Verweis auf die norwegische Kirche provoziert sogleich einen Zwischenruf. "Die Kirche gibt es mittlerweile nicht mehr", weiß ein Mann aus den hinteren Reihen.
Solche Dialoge zeigen, dass bei den "Board Game Studies" ausschließlich Fachleute anwesend sind: am Rednerpult, im Publikum, am Mittagstisch, wo zwischen Pfannkuchensuppe und Braten die indische Ausgrabungskultur diskutiert wird. Die "Board Game Studies" ist die wohl wichtigste Konferenz zur Brettspielforschung. Im Mittelpunkt steht lediglich das analoge Spielen, auf bedruckten Brettern, auf Felsen oder auf den Stufen von Hauseingängen. Hier gibt es Vorträge mit Titeln wie "Games on Portuguese Rocks" - Spiele auf portugiesischen Felsen. Nirgendwo im Raum sind Spiele aufgebaut, es laufen keine marktschreierischen Trailer auf der Leinwand. Stattdessen zeigt der Beamer die Präsentationen im falschen Format an.
Barcelona, Lissabon, Haar
"Was wir machen, interessiert die Mehrheit der Menschen nicht", sagt Tom Werneck, 72, Spielearchivar und Managementtrainer, der die diesjährige Konferenz ausrichtet. "Wir sind Idealisten. Leute, die auf Trümmerfeldern nach Spieleresten suchen." 70 Forscher aus Staaten wie Mexiko, Italien und Dänemark sind Wernecks Einladung nach Haar gefolgt, einer Gemeinde bei München mit rund 20.000 Einwohnern. Die Konferenz findet im Bürgerhaus statt, wo sonst bayerische Spielefans beim "Haarer Spieleabend" um die Wette würfeln. In den Vorjahren waren Barcelona, Lissabon und Oxford Konferenzorte.
Wenn Tom Werneck von Forschern auf Trümmerfeldern spricht, meint er Menschen wie Elke Rogersdotter, die aus Uppsala angereist ist. Seit sechs Jahren sucht die Schwedin nach Überresten antiker Spiele. Für ihre Doktorarbeit katalogisierte sie 280 Funde aus Mohenjo-Daro, einer 4000 Jahre alten Siedlung der Indus-Kultur im heutigen Pakistan. "Die meisten Archäologen interessieren sich selten für Funde, die mit Spielen zu tun haben", moniert Rogersdotter, 41. "Sie halten Spielen nur für einen Zeitvertreib, der für die Forschung irrelevant ist. Oft werden die Funde gar mit Spielzeug gleichgesetzt, als wären Brettspiele nur etwas für Kinder."
Eine Szene von hundert Personen
Rogersdotter hält das bei vielen Ausgrabungen entdeckte Spielmaterial für bedeutender. "Spielen hat eine soziale Dimension", meint die Wissenschaftlerin, "es kann uns etwas über das Sozialleben von damals verraten, über die Urbanität." Deshalb referiert sie in Haar über ihre Recherchereisen. Vor Enthusiasten, nicht vor Menschen, die sich über ihren Job wundern: "Wenn ich mich anderen Archäologen vorstelle, höre ich oft ein 'Wie bitte?'", erzählt Elke Rogersdotter.
In der Spieleforscherszene kennt man sich. Gastgeber Werneck schätzt, dass es weltweit kaum hundert Personen sind, die sich intensiv mit der Spielgeschichte auseinandersetzen. Hauptberuflich gehen die wenigsten davon der Forschung nach. Die meisten Konferenzteilnehmer sehen in Brettspielen vor allem eine Leidenschaft und ein Kulturgut, genau wie Musik, Filme und Bücher. Was spricht dagegen, dafür seine Freizeit zu opfern?
Zu den Hobbyarchäologen zählt der Brite Roly Cobbett. Der 53-Jährige, eigentlich Folk-Musiker, machte 2006 im englischen Richborough eine Entdeckung. Als er Fundstücke aus dem römischen Fort studierte, begriff er, dass sie Teile eines Würfelturms gewesen sein mussten: einer antiken Konstruktion aus Knochen, die das Würfeln fairer machen sollte. Oben wurde der Würfel in den Turm geworfen, unten kam er nach einigen Umdrehungen wieder heraus. Cobbett zeichnete Skizzen des "dice tower", seine Theorie bestätigte sich. Richborough hatte eine Attraktion mehr. Gestanden haben soll der 0,19 Meter hohe Turm im Badegebäude.
Barocke Brettspiele und Kriegspropaganda
Rainer Buland, 49, beschäftigt sich beruflich mit alten Spielen. Er leitet das Institut für Spielforschung an der Universität Mozarteum Salzburg. Bei den "Board Game Studies" präsentiert er seine Erkenntnisse über barocke Brettspiele. "Mir ist aufgefallen, dass bei Gänsespielen auf bestimmten Feldern oft dieselben Symbole auftauchen", sagt er. "Auf Feld 42 findet sich oft ein Labyrinth, auf 58 der Tod." Buland erklärt das mithilfe barocker Zahlenmystik. "In 58 kommen die Ziffern 5 und 8 vor, addiert ergeben sie 13, eine alte kabbalistische Zahl, die für Transformation steht." Das Publikum hört gespannt zu.
Eine andere Gattung historischer Spiele fasziniert Gejus van Diggele. Der 63-jährige Niederländer sammelt Brettspiele aus den Jahren 1919 bis 1947, vor allem Kriegsspiele. Er sehe die Spiele als Dokumente der Zeitgeschichte, sagt van Diggele. 1700 Brettspiele und Puzzles hat er mittlerweile gefunden, darunter Propagandawerke, aber auch Spiele, die die Soldaten oder ihre Familien vom Kriegsalltag ablenken sollten. "Man kann sich das aus heutiger Sicht schwer vorstellen", sagt van Diggele, "dass Menschen Kriegsspiele gespielt haben, während wirklich Krieg war."
Die Bandbreite an Spielen, die van Diggele vorstellt, reicht vom britischen Puzzle, das laut Karton "kein Nazi lösen kann", bis zum US-amerikanischen Schiebepuzzle "Put Hitler in the Dog House". So brauchen die Spieleforscher gerade mal einen Konferenztag, um von Adam und Eva bis zu Adolf Hitler zu kommen. Und ihr Treffen dauert noch drei Tage.
Korrektur: In einer vorherigen Version dieses Artikels war die Höhe des Würfelturms falsch angegeben. Wir haben den Fehler berichtigt.