»Cyberpunk 2077« durchgespielt Aber hier ewig leben? Nein danke

Keanu Reeves als Johnny Silverhand in »Cyberpunk 2077«: Ein Hollywoodstar im Science-Fiction-Spiel
Foto: CD Projekt REDSpoiler-Hinweis: Dieser Artikel bespricht das Videospiel »Cyberpunk 2077«, das am 10. Dezember für PC, Google Stadia sowie Playstation 4 und Xbox One erscheint. Die beiden letzteren Versionen sind auch auf Playstation 5 beziehungsweise Xbox Series S und X spielbar. Ein kostenloses Next-Gen-Update speziell für die neuen Konsolen erhält »Cyberpunk 2077« erst 2021. Diese Rezension basiert ausschließlich auf der PC-Version, größere Story-Spoiler gibt es im Text nicht.
Im schäbigen Behandlungsstuhl ist nur eine Frage wichtig: Welcher Körperteil soll heute ausgetauscht werden? Darf es ein stärkerer Arm sein? Ein mechatronisches Auge? Die Auswahl ist groß, die besten Ersatzteile stammen vom Schwarzmarkt. Nach der Behandlung geht es wankend zurück ins Neonlicht der Straße. Dort steht um die Ecke schon der nächste Händler mit frischer Ware im Angebot: die letzten Gedanken eines Menschen, konserviert für alle Ewigkeit in einer praktischen Datei.
In der Welt des Videospiels »Cyberpunk 2077« scheint Technologie zu erfüllen, was Religion versprach: das Ende des Todes. Es ist eine Welt, in der jedes Tun nicht nur ein kleiner Schritt in einem großen Plan ist. Eine Welt, in der sich zugleich aber viele Menschen fragen: Ist ein Leben in dieser kaputten Welt überhaupt lebenswert?
»Cyberpunk 2077« ist das neue Werk von CD Projekt Red, das schon das vielfach preisgekrönte Rollenspiel »The Witcher 3: Wild Hunt« entwickelt hatte. Statt auf Fantasy setzt das polnische Studio diesmal auf düstere Science-Fiction, die an den Pen-&-Paper-Titel »Cyberpunk 2020 « des US-Autors Mike Pondsmith anknüpft. In der Ego-Perspektive jagen die Spielerinnen und Spieler als Hauptperson V einem Gehirnimplantat hinterher, das eine besondere Wirkung hat.
Eine wichtige Rolle spielt in dieser Erzählung ein Mensch namens Johnny Silverhand, der von »Matrix«-Star Keanu Reeves dargestellt wird – was einer der Gründe für den Hype ist, der um »Cyberpunk 2077« entstanden ist. Kaum ein Titel wurde in den vergangenen Jahren so sehr herbeigesehnt, an wenige Spiele haben Fans so hohe, teils schier unerfüllbare Erwartungen. Nach mehreren Verschiebungen erscheint »Cyberpunk 2077« nun am 10. Dezember, am Ende der Ära von Playstation 4 und Xbox One.
Lila Haare oder Narben im Gesicht?
In Night City, dem Schauplatz von »Cyberpunk 2077«, erzählt das Spiel eine Geschichte übers Sterben und übers virtuelle Nachleben, über lebensleitende Prinzipien und über den vermeintlich aussichtslosen Kampf gegen die Großkonzerne, die in der Megametropole längst die Kontrolle übernommen haben. Die Spielenden werden mit einer hoch technisierten Zukunft konfrontiert, die abschreckend und aufregend zugleich wirkt.
Wie die Hauptfigur V aussieht und welches Geschlecht sie hat, lässt sich eingangs in einem Charaktereditor festlegen (siehe Fotostrecke). Dort wählt man aus, ob V gedrungen oder stattlich ist, oder auch ob V lila Haare hat oder Narben im Gesicht. So kann man »Cyberpunk 2077« an seine Wünsche anpassen – ein großer Unterschied zu »The Witcher 3«.

So sieht »Cyberpunk 2077« aus
Zur Auswahl stehen zudem drei Lebenswege für V: Nomade, Streetkid oder Konzerner. Jeder Weg gibt V eine andere Vorgeschichte, ein anderes Standing in der Welt, eine bestimmte Motivation für ihr Handeln. Schließlich gilt es, Attribute anzupassen: Man kann auf technische Fähigkeiten setzen und damit eher aufs Tricksen und Hacken, aber auch auf körperliche Konstitution, etwa für Nahkämpfe.
Ein mühsamer Einstieg
»Cyberpunk 2077« legt großen Wert auf die Entscheidungen der Spieler. Doch egal wie V daherkommt, zu Beginn gilt es, sich die vielen Systeme des Spiels anzueignen, zu lernen, wie man kämpft und schleicht, wie man Überwachungsanlagen für eigene Zwecke nutzt. Wie man seinen eigenen Körper modifiziert und so neue Fähigkeiten erhält. Wie man sich auflevelt und Waffen verbessert.
Dieses Lernen überfrachtet die ersten Stunden des Spiels, wenngleich man viele der Systeme aus anderen Games kennt. Augmentierungen etwa gibt es auch in »Deus Ex«, das Sammeln der Waffen erinnert an »Fallout 4«. Und die Möglichkeiten der offenen Spielwelt von »Cyberpunk 2077« haben Anleihen von »Grand Theft Auto 5«, wenngleich das polnische Werk deutlich storygetriebener ist.
Seine Dichte und Kompaktheit, seine knackige Dramaturgie ist eine große Stärke von »Cyberpunk 2077«. Wer es eilig hat, kann in etwa 20 Stunden den Abspann sehen – eine gute Nachricht etwa für Berufstätige oder Eltern, die andere Open-World-Games teils für Wochen oder Monate binden.
Erreicht ist damit aber nur eines von vielen Enden, denn der Verlauf der Geschichte variiert. Ob ein Charakter überlebt oder nicht, ob er überhaupt Teil der Geschichte wird – all das entscheidet der Spieler per Tastendruck. Nach dem Durchspielen könnte man daher den Wunsch haben, jetzt alles anders zu machen, von Anfang an.
Ein Leben, das kein Leben ist
Ist jene Zukunft, die »Cyberpunk 2077« skizziert, eine Fortführung unserer Gegenwart? Fühlt sie sich fremd an oder vertraut? Hätte es einen Zeitpunkt gegeben, um auszusteigen und einen Neuanfang zu wagen? Und was ist mit den Großkonzernen, die mit Technologie die Körper und Köpfe der Menschen kontrollieren? Solche Fragen kommen auf, während man verschiedene Stadtteile von Night City kennenlernt, in denen Gangs die Straßen regieren. Wenn man die Außenbezirke der Stadt erkundet, in die sich diejenigen zurückgezogen haben, für die das Leben in Night City keine Perspektive mehr bot.
Transparenzhinweis: Die PC-Version des Spiels wurde dem SPIEGEL vergangenen Freitag zur Verfügung gestellt. Getestet wurde »Cyberpunk 2077« mit Grafik-Settings zwischen »High« und »Ultra«: Das Spiel lief dabei auf einem Rechner mit einer Geforce GTX 1660 Ti, 16 Gigabyte Arbeitsspeicher und einem Ryzen-5-2600-Prozessor. Die Screenshots hat unser Autor selbst gemacht, es gab – anders als zuletzt bei »The Last of Us Part 2« – auch keine inhaltlichen Einschränkungen für den Inhalt des Testberichts.
Substanz verleiht CD Projekt Red seiner Digitalmetropole nicht nur durch zahlreiche interessante Geschichten und Charaktere, die sich auch jenseits der Hauptstory finden lassen und die einen Spieldurchlauf locker auf 60 Stunden verlängern können. Faszinierend ist auch die Technik, die das Leben im virtuellen Jahr 2077 prägt. Da ist etwa eine Technologie namens »Brain Dance«, eine Art Film, der nicht nur die Blicke seiner Protagonisten aufnimmt, sondern auch ihre Empfindungen: was sie hören, ob sie Angst haben oder euphorisch sind. Spieler können diese Erlebnisdaten aufspüren und auswerten.
Die »Braindance«-Einblicke sind wichtig fürs Gameplay, sie erzählen aber auch von einem Leben in Night City: Menschen verkaufen hier ihre Gefühle, lassen anderen Eintritt in ihr Innerstes. Das kann ein utopischer Gedanke sein; die Verbindung von Menschen ohne Worte, das tiefste Verstehen. Das Gegenteil aber ist genauso möglich; das Erstellen von Snuff-Filmen für emotionsgierige Konsumenten, die nachempfinden wollen, wie sich der Tod anfühlt. Night City ist voll von fragwürdigen Angeboten.

Spielschauplatz Night City: Ein Ort, an dem man eher nicht leben möchte
Foto: CD Projekt REDDie Vision und die Realität
So wie sich die utopischen Möglichkeiten von Technologien in der Spielrealität oft ins Gegenteil verkehren, scheitert auch das Spiel selbst zuweilen an seinen Ambitionen. Unsere Testversion plagten immer wieder Technikfehler. Charaktere schwebten durch den Raum, Gegenstände standen in der Luft. Tonaussetzer machten die eigenen Schritte stumm oder führten bei Dialogen zu verschluckten Sätzen. Das stört den Spielfluss. Womöglich lohnt es sich, erst einmal zu warten, ob und wann solche Fehler durch Patches für das Spiel behoben werden.
»Cyberpunk 2077« möchte zudem eine komplexe Spielwelt voller Widersprüche zeigen. Oft greifen die Entwickler dabei aber zu den dicksten Pinseln. Kein Akzent, kein Affekt, kein Stereotyp wird ausgelassen, um eine möglichst dystopisch wirkende Realität zu bauen. Das funktioniert, ist aber nicht immer clever. Ist etwa das ständige Wiederaufrufen misogyner Klischees und Schimpfwörter eine Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart, eine Dekonstruktion gar? Oder ist es nur eine weitere Darstellung ohne Bruch und Kommentar?
Ebenso existiert mitunter eine Lücke zwischen der zum Nachdenken anregenden Geschichte und dem, was dazwischen passiert: den Gameplay-Routinen, die zwar Schleichen oder Hacken ermöglichen, bei denen das Schießen aber doch meist die unkomplizierteste Vorgehensweise zu sein scheint.
Das Versprechen gebrochen
Die größte Diskrepanz zwischen Vision und Realität findet sich jedoch beim Studio selbst. Denn während CD Projekt Red daran arbeitete, eine Welt zu schaffen, in der Megakonzerne die Menschen degradieren und zu willfährigen Ausführern ihrer Ziele machen, mussten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Studios Berichten zufolge massiv Überstunden machen, auch an Wochenenden. Leben für ein Spiel.
Crunch nennt sich das und ist auch bei der Produktion anderer Spieleblockbuster ein Problem. Im Fall von CD Projekt Red stehen die Erfahrungen vieler Mitarbeiter im Kontrast zu einem Versprechen, das der Chef der Firma, Marcin Iwiński, noch vergangenes Jahr in einem Interview gab: Schluss mit dem Crunch. Letztlich gab es nun doch wieder Wochen voller Zusatzarbeit, durch die Release-Verschiebungen wurde das Schinden noch verlängert. Ein brancheninterner, besser noch gesellschaftlicher Diskurs darüber, ob Unterhaltungsprodukte jene Aufopferungen wirklich wert sind, ist überfällig.
Wie viel Arbeit im Spiel steckt, ist unübersehbar. Groß wird die Welt von »Cyberpunk 2077« vor allem dann, wenn man sich Zeit nimmt. Aus dem Auto steigt, die Waffe wegsteckt, kurz die Ziele aus den Augen verliert. Wenn man schaut, wie die Menschen in Night City ihre Zeit verbringen. Wenn man sich klarmacht, dass jedes Joytoy, wie Prostituierte hier genannt werden, eine Geschichte haben kann – ein Leben. Wenn man bemerkt, dass sich in der Werbung, die von jedem Bildschirm flimmert, das Verlangen nach Nähe spiegelt.
In seinen stillen Momenten kann »Cyberpunk 2077« eine Kraft erzeugen, die bewegender ist als sein Bombast.