Gedenken an einen besten Freund Sebastians letztes Lieblingsspiel

Vor fünf Jahren ist mein bester Freund gestorben. Jetzt habe ich sein letztes Lieblingsspiel gespielt, zwei Nächte lang. Die Erinnerung ist schwer zu ertragen.
Videospiel "Demon's Souls"

Videospiel "Demon's Souls"

Foto: Sony

Ich erinnere mich nicht mehr an den Anruf mit der Nachricht von Sebastians Tod. Nur daran, wie ich nach dem Telefonat das erste zerknüllte Papiertaschentuch von mir schleuderte, wie es lautlos auf dem Boden aufkam. Meine Wut war dem Universum egal.

Ich denke nicht mehr ständig daran. Wenn ich spät zum Spielen aufbleibe, während meine Familie schläft, denke ich nicht an Sebastian. Ich habe mich an das Gefühl gewöhnt. Sebastians Tod hat mir etwas gezeigt: Alle Menschen, die ich liebe, sterben.

Früher habe ich dieses Wissen in einer unbestimmten Hoffnung auf Barmherzigkeit verdrängt. Jetzt lebe ich damit. Alle Menschen, die mich lieben, werden mich verlieren. Viele Eltern stocken, wenn ihre Kinder fragen, ob der zerfledderte Spatzenkadaver im Sandkasten schläft. Ich nicht. Ich will darüber reden.

Die Krankheit gehörte zu seiner Person

Sebastian war auf seinen Tod vorbereitet. Er war krank. Als ich ihn kennenlernte, gehörte die Krankheit zu seiner Person. Er war bleich, langhaarig, hörte frickeligen Metal und würde sterben, bevor er 30 war. Wenn er tot wäre, sollte niemand um ihn trauern. Lieber auf ihn anstoßen.

Ich war neidisch darauf, wie viel und wie gut er spielte. Mir hatten meine Eltern spät und zögerlich einen Computer gekauft. Sebastian verbrachte einen guten Teil seiner Kindheit vor Spielkonsolen. Direkt vor seinem Bett stand ein riesiger Flachbildfernseher. Er konnte vor sich hinsummen, während er mit mir redete und den Endgegner von "Metroid Prime 2" besiegte.

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Er mochte den Endgegner nicht, aber er besiegte ihn. Aus Prinzip. Hatte er sich ein Spiel ausgesucht, dann vertiefte er sich darin. Er meisterte Herausforderungen. Er kaufte sich Special-Editions.

Sebastian verstand Spiele besser

Ich dagegen breche fast alles wieder ab, hasse Wiederholungen, mache nebenbei Notizen und suche Fehler. Ich konnte vielleicht besser diskutieren. Aber Sebastian verstand Spiele besser.

Seine letzte große Liebe war "Demon's Souls". Er hatte es mir gezeigt: Ich sah ein farbarmes Actionrollenspiel, einen Mix aus abgegriffenen Fantasy- und Horrormotiven, zum Ritual hochgejazzte, endlose Wiederholung als Rechtfertigung für einen gehässigen Schwierigkeitsgrad. Was überall woanders schlecht gewesen wäre, sollte hier auf einmal gut sein. Weil es absichtsvoll passierte.

Ich wollte "Demon's Souls" verstehen. Ich saß neben Sebastian auf seinem Bett und spielte. Er erklärte mir, wie ich mich positionieren, in welchem Rhythmus ich blocken, ausweichen und zuschlagen musste. Ich fing gut an, dann starb ich. Dann hatte ich genug. Sebastian hatte in "Demon's Souls" etwas Besonderes entdeckt, ich nicht.

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Reliquien in meiner Wohnung

Nach Sebastians Tod blieben mir von ihm eine geschenkte Teetasse, eine halbvolle Flasche Whisky und die "Demon's Souls Black Phantom Edition". Die Gegenstände stehen wie Reliquien in meiner Wohnung. Ich behalte sie in meiner Nähe, aber ich schaue an ihnen vorbei.

"Demon's Souls" habe ich nie wieder gespielt. Es könnte meine beste Chance sein, Sebastian besser zu verstehen. Ich würde mich an ihn erinnern, mich ihm nahe fühlen. Aber ich habe mich vor der Aufgabe gedrückt. Ich müsste ein Spiel spielen, das ich nicht mag, das meine niedrige Frustschwelle testet, meine nachlassenden Reflexe illustriert und mich mit Rittern, Drachen und Skeletten anödet. Und warum? Um an meiner größten Wunde herumzupopeln.

Mir das prinzipiell vorzunehmen, war nicht schwer. "Demon's Souls" war für eine Zukunft bestimmt, in der ich weise und gelassen auf mein Leben zurückblicke. Aber fünf Jahre nach Sebastians Tod glaube ich nicht mehr an Weisheit und Gelassenheit. Also versuche ich es heute.

Erste Nacht

Ich sitze allein in meinem Büro, schaue den Intro-Film und erinnere mich an das ausgeblichene, kränkliche Beige. Ein Ritter kämpft immer wieder bis in seinen sicheren Tod, umzingelt von Skeletten. Durch den Visierschlitz sieht er nur einen gnädigen Spalt des Grauens. Den Ritter wähle ich als Helden und nenne ihn Jan. Dann steht er abwartend da. Die Welt ist würdevoll gealtert, nur etwas verwaschen.

Jahre der überhöhten Erwartung haben mich stärker gemacht. Der erste Gegner kann mich nicht überraschen. Ich hacke ihn um. Der Anfang ist wichtig. Nicht weil ich wahrscheinlich nicht weit kommen werde, sondern weil ich genau das hier mit Sebastian gespielt habe.

Aber ich erinnere mich nicht. Nicht an den ersten Hinterhof, nicht an die lächerlich kurze Sicht durch den trüben Dunst. Aber den Tümpel mit frei herumstehenden Untoten erkenne ich wieder. Hier bin ich neben Sebastian sitzend das erste Mal in Bedrängnis geraten, weil ich einfach losgerannt bin. Den Fehler mache ich nicht wieder.

Es geht bergab

War ich damals zu ungeduldig? Bin ich in den vergangenen Jahren so viel besser geworden? Der nächste Gegner rückt das Bild gerade. Ich entkomme dem Tod knapp und jogge weiter. Immerhin hängt er mir noch einige Meter als zappelnde, leblose Puppe an den Füßen; als wolle er mir zeigen, dass alles hier doch nicht so ernst gemeint ist.

Es geht bergab. Ein blauer Ritter wartet ab, als wolle er meine Verzagtheit nachäffen. Ich verbocke es, hacke sinnlos vor seinen Schild. Als ich ihn endlich absteche, ist das mein erster Triumph. So könnte sich Sebastian hier ständig gefühlt haben. Bei mir bleibt das High eine Ausnahme. Ich bin weit davon entfernt, das Timing zu lernen.

An den Endgegner erinnere ich mich. Ich war ungeduldig geworden, losgestürmt, und kam damit überraschend weit. Sebastian feuerte mich an, er war begeistert, er verwechselte meine Langeweile mit Kühnheit. Diesmal schaue ich genauer und werde sofort umgefegt.

Was haben wir gelacht

Ich erwache im Nexus, einer friedlichen Zwischenwelt. Hier können sich gestorbene Ritter aufpäppeln, bevor sie wieder in den Tod ziehen. Beim ziellosen Stöbern entdecke ich die gigantischen Freitreppen. Plötzlich sehe ich Sebastian vor mir, wie er dort hinaufläuft, nicht aufpasst und mit dem Helden von der Treppe in die Tiefe stürzt. Da war er tot. Was haben wir gelacht.

Ich probiere es aus. Ich erklimme die Treppe und stürze mich in die Tiefe. Gnädige Sekunden steht mein Ritter im Nichts und rauscht herab. Dann schlägt er merkwürdig still auf den Boden, bleibt zusammengekauert liegen. Immerhin muss ich kichern. DU BIST TOT, steht da, aber dann erwache ich wieder im Nexus, wieder in derselben Welt, in der ich gerade gestorben bin.

Der Nexus ist besser als die Welt draußen. Warum bleibe ich nicht einfach hier? Heute tue ich das. Heute sitze ich allein in meinem Büro und schaue mir meinen dampfenden, atmenden Ritter an. Er steht still da, Schild und Schwert erhoben.

Zweite Nacht

Ich habe mir tagelang erzählt, dass ich keine Zeit für den nächsten Anlauf habe. Dann habe ich mir vorgenommen zu spielen. Dann habe ich meiner Frau vorgeschlagen, noch ein bisschen Netflix zu schauen. Dann habe ich YouTube-Videos angeglotzt, während meine Frau schlief. Jetzt rapple ich mich auf. Ich knirsche mit den Zähnen.

Sebastian liebte das Gefühl, in einem Spiel festzustecken, eine Nacht drüber zu schlafen und am nächsten Tag festzustellen, dass er die Lösung des Problems unbewusst ausgebrütet hatte. Bin auch ich besser geworden? Vielleicht. Ich stürme auf Gegner zu, bleibe direkt vor ihnen stehen und stürze zur Seite, wenn sie zuschlagen. Das funktioniert gut. Bis es plötzlich nicht mehr funktioniert.

Zur Aggressionsbewältigung hacke ich Möbel kurz und klein. Fässer, Tische, Sitzgruppen. Neben mir im Büro steht ein halbfertig zusammengebautes Schubladenelement von Ikea. Dann fällt mir das anhaltende dunkle Rauschen auf. Raben krähen, untote Ritter ächzen im Gebälk.

Ich finde das Spiel schlecht

Diese maximale Trostlosigkeit passt vielleicht zu Sebastians Musikgeschmack, zu Death Metal mit dampfenden Baumskeletten auf schwarz-weißen Plattencovern. Mir passt sie nicht. Ich bleibe in meiner Ablehnung stecken. Ich finde das Spiel schlecht.

Ich fühle mich der Herausforderung nicht gewachsen. Sebastian besaß eine Ruhe, die ich nie erreichen konnte. Er saß im Scheitern wie in einer Sauna. Er schwitzte alles aus. Wenn er starb, spielte er weiter. Das war normal, das gehörte zur Erfahrung. Wenn ich sterbe, ärgere ich mich. Ich will nichts doppelt spielen. Ich will nicht meine Lebenszeit verschwenden.

Irgendwann werde ich in der Lage sein, durch die klapprige Geisterbahn, durch die quietschenden Ritterrüstungen hindurch Sebastians Lieblingsspiel zu sehen: harte Kämpfe, strenges Timing. Aber jetzt sehe ich nur die lächerlich schlechte Kameraführung. Ich fluche die leere Treppe vor mir an, während ein Gegner mich aus dem toten Winkel absticht.

Ich bleibe tot

Zwischendurch werde ich besser. Kurz darauf treffe ich einen breitbeinigen Ritter mit einer langen Lanze und rot leuchtendem Kopf. Stinkwütend stürmt er auf mich zu. Seine Lanze schleift über den Boden, sie trifft mich, ich rutsche leblos über den Boden. ICH BIN TOT. Ich bleibe tot. Ich lasse Jan im Nexus stehen und schalte die Konsole aus.

Ich habe gedacht, ich könne das Spiel erobern. Ich könne mich zu Sebastian in die Sauna setzen und schwitzen wie er. Aber mir geht die Puste aus. Ich sitze vor dem Spiel wie unter einem Brennglas. Ich ertrage die Erinnerung nicht.

Ich stelle die "Black Phantom Edition" zurück in mein Regal. Da soll sie bleiben. Sie mahnt mich zur Bescheidenheit. Sebastian hat Spiele besser beherrscht und besser verstanden als ich. So wie er kann ich niemals werden. Ich kann mich nur an ihn erinnern.


Dieser Text ist ursprünglich in Ausgabe 10 des Videospielmagazins "WASD " erschienen.

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