Videospiele und Fotorealismus
Wow, das sieht echt echt aus
Schon lange träumt die Spielebranche von Games, die sich optisch von der Realität nicht mehr unterscheiden lassen. Der Traum bringt die Technik voran, doch der Fokus auf Grafik weckt auch Kritik.
»The Last Of Us Part 2« ist eines der technisch eindrucksvollsten Spiele: Die Mimik der Spielfiguren ist so wirklichkeitsgetreu, dass sie ohne Hilfe erklärender Worte auch subtile Gefühlsregungen vermitteln kann
Foto: Sony Entertainment
Nicht nur rosig, sondern auch fotorealistisch: So stellt sich Strauss Zelnick die Zukunft der Videospiele vor. Zelnick ist der Geschäftsführer der amerikanischen Spielefirma Take-Two, zu der Studios wie Rockstar Games und 2K Games gehören, die Macher populärer Spieleserien wie »Grand Theft Auto« und »NBA 2K«. Auf einer Konferenz prognostizierte Zelnick kürzlich, dass das Medium in rund zehn Jahren den Sprung zum ultimativen Realismus schaffen werde. Behält er recht, könnten Spieler dann mit bloßem Auge nicht mehr unterscheiden, ob sie auf dem Bildschirm animierten oder realen Figuren zusehen.
Wird es wirklich so kommen? Und wäre das überhaupt wünschenswert?
Beim Berliner Spieleentwickler Johannes Kristmann, bekannt für die Simulation »The Curious Expedition 2«, hinterlässt Zelnicks spektakulär klingende Prognose wenig Eindruck: »Fotorealismus ist ein Wegbegleiter des technischen Fortschritts«, sagt er, »aber er ist nicht das Endziel unserer Branche«.
Erst fotografieren, dann malen
Die Idee des Fotorealismus kommt aus der Malerei: In den Sechzigerjahren griffen Künstler zum Fotoapparat, um ihr Motiv erst zu fotografieren und dann das entwickelte Bild möglichst wirklichkeitsgetreu auf die Leinwand zu übertragen – eine beachtliche Herausforderung, die den Reiz dieser Kunstform ausmachte.
»River Raid« von 1982: Mit dem Fortschritt der Technik haben sich auch die Vorstellungen von Realismus verändert. So landete dieses Kriegsspiel einst auf dem Index – wegen seines »Hyperrealismus«
Foto: Activision
In der Spieleentwicklung ist Fotorealismus ein unerreichtes, aber verbissen verfolgtes Ziel vieler Entwicklerteams. Und das ist kein Zufall: Nichts bezeugt die handwerkliche Qualität eines Spiels so eindrücklich wie grafische Opulenz – so lautet eine Annahme, die über Jahrzehnte hinweg von Kritikern geprägt wurde.
Bis heute bewerteten viele Tester stets auch die »Grafik« von Neuerscheinungen. Je realistischer und wirklichkeitsgetreuer die Spielwelt, desto mehr Punkte und bessere Noten gibt es, das ist jenseits besonderer Kunststile die Tendenz.
Je wirklichkeitsgetreuer, desto besser?
Schon die Archäologen der frühen Neuzeit nahmen bei der Erforschung antiker Bildkunst wie selbstverständlich an, dass wirklichkeitsgetreue Bilder von talentierten und besseren Künstlern stammen – abstrakte Darstellungen hingegen von Auszubildenden oder gar von Kindern. Realismus als Auszeichnung und Ziel jeder Kunst scheint zumindest für den modernen, westlichen Menschen im ersten Moment eine logische Gleichsetzung zu sein.
Dass Grafik auch im Jahr 2020 eine der wichtigsten Spiele-Bewertungskategorien ist und Realismus ein Grund für Lob, ärgert Entwickler wie Johannes Kristmann, der sowohl an Großproduktionen, aber auch an kleinen Spieleprojekten mitgearbeitet hat. »Gute Grafik« sei längst synonym für »realistisch aussehende Grafik« geworden, meint er, obwohl Realismus nur auf den ersten Blick ein erstrebenswertes Ziel für die Branche sein könne.
»Es ist ein Irrglaube vieler Menschen, dass ein Spiel nur dann richtig gut sein kann, wenn es auch möglichst realistisch aussieht«, meint Kristmann. »Klar, das Streben nach Fotorealismus ist gut, um die Technik insgesamt voranzubringen – aber man ist in jeder Form des Realismus auch enorm befangen und gefangen.«
Nicht jeder ist Werner Herzog
Wer fotorealistische Spiele machen will, muss die Wirklichkeit abbilden, wie sie aussieht. Künstlerische Freiheit stecke da nur im Detail, erklärt Kristmann mit einem Vergleich zu Dokumentationsfilmen: »Es gibt gewaltige Unterschiede zwischen Hobbyisten und einem Werner Herzog, der durch bildgewaltige Szenen und die Komposition der Bilder ein echtes Kunstwerk schafft.« Egal, ob man Spiele nun realistisch oder in einem anderen Look entwickle, es stellten sich dieselben Fragen: »Was zeige ich?« und »Wo setze ich den Fokus?«.
»The Curious Expedition 2«: : Maschinen-Mensch, das Entwicklerteam von Johannes Kristmann, veröffentlichte zuletzt dieses Abenteuerspiel, dessen Grafik bewusst die »Tim und Struppi«-Comics zitiert. So wird die visuelle Präsentation zu einem eigenen Stilmittel
Foto: Maschinen-Mensch
Der Traum vom Fotorealismus wurde zuletzt durch Spiele wie »Demon's Souls« vorangetrieben. Das Postapokalypse-Abenteuer »The Last Of Us Part 2« schaffte es derweil, seine Hauptdarsteller in ausgewählten Szenen Gefühle wie Wut, Trotz und Verzweiflung allein durch ihre ausdrucksstarke Mimik wirklichkeitsgetreu ausdrücken zu lassen – ein neuer Maßstab für alles, was noch kommt.
Der Wettlauf in Richtung Fotorealismus ist aber nicht nur ein Kräftemessen der Technik, sondern auch des Budgets. Noch gibt es etwa keine massentaugliche Software, die Fotografien oder Scans realer Objekte automatisch in eine Spielumgebung transportiert. Verschiedene Firmen probieren sich auf diesem Gebiet aus, noch aber dominieren aufwendige Produktionsverfahren.
Johannes Kristmann sieht in diesem Umstand nicht unbedingt einen Nachteil für weniger finanzstarke Studios. Denn während die »Big Player« mit ihrem Streben nach Fotorealismus die technischen Möglichkeiten vorantreiben, könnten sich kleinere Teams in deren Fahrwasser mit betont fantasievollen oder abstrakten Grafikstilen hervortun – oder zumindest eine kleine Portion Fotorealismus in ihre Spiele holen.
»Wie auch Kurzfilme experimentieren einige Prototypen bereits mit einer spannenden grafischen Mischform«, sagt Kristmann: »Da werden realistisch aussehende Materialoberflächen wie zum Beispiel Gummi auf abstrakte Objekte geklatscht. Dadurch entsteht eine bizarre Form von Fotorealismus: Es sieht echt aus, aber kann eigentlich gar nicht echt sein.«
Ob der Fotorealismus nun binnen zehn Jahren die Spielewelten erreicht oder länger auf sich warten lässt, eine Frage drängt sich schon jetzt auf: Müssen Spieleentwickler ihre Verantwortung für ihr Publikum neu überdenken, wenn ihre Welten eines Tages nicht mehr von der realen Welt zu unterscheiden sind?
Johannes Kristmann bemüht sich um eine Antwort. »Ich glaube, Verantwortung tragen wir Entwickler so oder so, ob man nun fotorealistische Spiele macht oder nicht«, sagt er. »Und ich denke auch, dass die Wirkung eines Spiels durchaus eine andere sein kann, wenn es derart real erscheint – gerade, wenn man diese Technologie dann noch mit virtueller Realität kombiniert.«
Nachdenken könnte man über Warnhinweise, die auf die Folgen der erhöhten Wirklichkeitstreue und Immersion hinweisen, meint der Entwickler aus Berlin. Eine emotional aufgeladene »Killerspieldebatte« hingegen hofft Kristmann nicht mehr verfolgen oder gar führen müssen, sobald der Fotorealismus da ist: »Womöglich schwingt dann wieder irgendwer die Keule mit den Kriegsspielen und behauptet, dass Spieler jetzt auch im echten Leben Menschen erschießen, weil sie nicht mehr Spiel von Wirklichkeit unterscheiden könnten«, sagt er. Dabei könne ein »gesunder Verstand« diesen Unterschied »immer erkennen«.
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Foto: Sony Entertainment
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Foto: Activision
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