Gamification Die Welt wird zum Spielfeld

Wer vor Zombies flieht, joggt schneller: Mit Mechanismen aus der Welt der Spiele sollen Alltagsaufgaben attraktiver werden. Manchmal funktioniert das Prinzip namens Gamification schon ganz gut. Die Idee aber ist eigentlich alt: Sie stammt aus der Psychiatrie.
Von Nora Stampfl
Münzsammler Super Mario: Mechanismen aus der Spielwelt in die Arbeitswelt übertragen

Münzsammler Super Mario: Mechanismen aus der Spielwelt in die Arbeitswelt übertragen

Unzählige Stunden fließen Tag für Tag weltweit in Computerspiele. Dabei werden Punkte angehäuft, Sternchen gesammelt, jede noch so abgelegene Ecke einer Spielwelt erkundet, unermüdlich. Längst wird versucht, diese Ressource, diese enorme Energie zu kanalisieren, nutzbar zu machen. Gamification nennt sich der Trend, wonach die Prinzipien und Mechanismen aus Computerspielen auf ganz andere Aufgaben übertragen werden.

Ganz neu ist die Idee freilich nicht: Jeder kennt Strategien von Unternehmen, Interaktionen unterhaltsam und kompetitiv zu gestalten, um die Kundenbindung zu erhöhen. Ob die gute alte Rabattmarke oder Meilenprogramme von Fluglinien - solche Kundenbindungswerkzeuge weisen etliche Mechanismen auf, die der Spielwelt entliehen sind: Klempner Mario sammelt Münzen und goldene Sterne, Vielflieger eben Bonusmeilen.

Dabei macht sich das Marketing ein Konzept zunutze, wie es in der Verhaltenstherapie schon seit den 1960er Jahren Anwendung findet: Die Token Economy ist ein systematisches Belohnungssystem, das durch die gezielte Vergabe von Tokens (Tauschgegenständen, etwa Münzen) Verhalten aufbauen soll. Tut der Betreffende das Gewünschte, erhält er Tokens, die dann - nach einem festgelegten Plan - in begehrte Aktivitäten oder Dinge eingetauscht werden können (5 Tokens = 1 Kinobesuch). Was heute vielfach mit "Gamification" als neuestem Schrei verkauft wird, unterscheidet sich kaum von dem Token-System, das ursprünglich in psychiatrischen Anstalten, in Heimen für dissoziale Jugendliche oder Gefängnissen angewandt wurde.

Das Internet der Dinge macht die Welt zum Spielfeld

Heute sind Spielmechanismen, wie wir sie sonst nur aus Videospielen kennen, nicht mehr der virtuellen Welt vorbehalten - dank Smartphones, Digitalkameras, Sensoren und dem Internet. Wir treten zudem ins Zeitalter der Wegwerfelektronik ein: Recheneinheiten, Sensoren und Kameras werden in nicht allzu ferner Zeit so billig sein, dass die gewöhnlichsten Alltagsgegenstände mit Elektronik ausgestattet sein werden - von der Kaffeetasse über Lebensmittelverpackungen bis hin zur Zahnbürste.

All das wird durch das Internet miteinander verbunden sein, und schon kann alles, was wir tun, gemessen und verfolgt werden. Die Grenzen zwischen physischer und virtueller Welt verschwimmen. Dabei entstehen Möglichkeiten für neue Spiele, die diese Bezeichnung auch verdienen und über das einfache Belohnungssystem einer Token Economy hinausgehen. Weil sie nicht bei der Vergabe von Punkten oder irgendwelcher Abzeichen stehenbleiben, sondern die innere Motivation des Spielers ansprechen und bedeutungsvolle, bereichernde Spielerfahrungen bieten.

Wer vor Zombies flieht, joggt schneller

So kann Gamification in die verschiedensten Lebensbereiche eindringen. Immer mehr Spiele sollen helfen, Alltagsaufgaben unterhaltsamer zu gestalten und den inneren Schweinehund zu besiegen. So macht etwa "Zombies, Run!"  Läufern im Training Beine. Die App schickt den Spieler (Runner 5) auf 13 Audiomissionen und nimmt ihn mit in eine Spielwelt, in der ihm eine aktive Rolle zukommt. Es gilt, Versorgungsgüter in ein umkämpftes Gebiet zu bringen, in denen es von Zombies nur so wimmelt. Der jeweilige Standort von Runner 5 wird per GPS erfasst, kommen Zombies gefährlich nahe, verfärben sie sich rot und Runner 5 sollte besser einen Zahn zulegen. Wer mit Zombies im Nacken joggt, trödelt nicht.

"EpicWin" nennt sich die Anwendung, mit der noch die langweiligste Aufgabe des Alltags in ein aufregendes Abenteuer verwandelt werden soll: Wie in jedem Videospiel erschafft man sich dabei als Erstes einen nach eigenem Geschmack und Belieben aussehenden Avatar und legt sodann die Liste der "Quests" an - Putzen und Wäschewaschen werden in einen abenteuerlichen Kampf gegen den Alltag umfunktioniert und schon geht alles leichter von der Hand. Prokrastination - die "Aufschieberitis" - findet ein Ende, wenn es um das Sammeln von Punkten und das Einnehmen des Spitzenplatzes auf der Rangliste geht. Wer wäscht am meisten?

Eine Reihe anderer Online-Spiele hat zum Ziel, die Motivation auf eine gesellschaftlich sinnvolle Gemeinschaftsaufgabe zu richten.

  • Die Finnische Nationalbibliothek etwa lässt mit "Digitalkoot"  ihre elektronischen Archive von Freiwilligen durchsuchen.
  • Das Institut für Kunstgeschichte an der Uni München nutzt das Online-Spiel "Artigo",  um Kunstwerke verschlagworten zu lassen.
  • "Foldit"  und "EteRNA"  lassen Wissenschaftler gemeinsam mit Spielern an der Erforschung von Krankheiten und deren Heilung arbeiten.
  • "PhotoCity"  schickt Spieler auf eine Art fotografische Schnitzeljagd, um aus den spielerisch generierten Bilddaten digitale 3-D-Modelle ganzer Städte anzufertigen.


Im Zeitalter des Computerspiels werden Spaß und Unterhaltung zu einer neuen Währung im Austausch für Arbeit, die andernfalls kaum finanzierbar wäre. Allerdings geht auch diesen Bemühungen unter Umständen irgendwann die Luft aus: Den Spielen "Phetch" (PDF)  und "Peekaboom" (PDF)  etwa, die das Internet für Sehbehinderte zugänglicher machen sollten, indem die Spieler Bilder benannten, also Metadaten eingaben. Beide begannen als Forschungsprojekte, wurden eine Zeitlang betrieben und öffentlich als Positivbeispiele für sinnvolle Spiele gelobt - aber schließlich eingestellt.

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