
Shooter-Klassiker: Das war "Half-Life"
"Half-Life" wiederentdeckt Wo zur Hölle ist mein Brecheisen?
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 3. August 2016. Wir veröffentlichen ihn erneut, weil bei Steam seit Kurzem erstmals auch für deutsche Nutzer die unzensierte Ursprungsversion von "Half-Life" verfügbar ist. Sie war Ende 1998 in Deutschland indiziert worden und ist erst kürzlich vom Index gestrichen worden . In der Version des Spiels für den deutschen Markt waren zum Beispiel menschliche Gegner durch Roboter ersetzt worden.
Verdammt, ich bin aus der Übung. Der Wechsel zwischen Brecheisen, Pumpgun und Raketenwerfer muss flüssiger werden, sonst habe ich gegen die Aliens keine Chance. Und meine Nerven sind strapaziert.
Vorhin, beim Gang zur Toilette, habe ich gemerkt, dass ich schon wieder leicht paranoid bin - ich grusele mich vor leeren Fluren, Lüftungsanlagen, Fahrstühlen. Das sind die Nebenwirkungen dieses beängstigenden Spiels, ich kenne das noch von früher. Ich spiele "Half-Life".
Bei mir ist es 14 Jahre her, dass ich mich über Wochen hinweg immer wieder in die Rolle des Wissenschaftlers Gordon Freeman flüchtete. Der Physiker arbeitet in Black Mesa, einer zum Forschungskomplex umgebauten Raketenstation. Hier wird etwas streng Geheimes erforscht, das irgendwie mit Teleportern zu tun hat.
"Die mit dem Ego-Shooter"
Viel mehr erfährt man nicht, denn zum Start des Spiels passiert ein Unfall. In einem Versuchslabor schiebe ich extraterrestrische Materie in einen riesigen Laser, es knallt und blitzt, und dann öffnen sich Portale zur Alienwelt, üble Monster wollen meine Forschungsstation einnehmen. Ich muss mich jetzt allein durch Alienhorden kämpfen, aus der Ich-Perspektive. Dabei helfen mir zunächst nur mein Schutzanzug und ein Brecheisen.
"Half-Life" erschien 1998, bekannt ist das Spiel natürlich auch durch seine Modifikation "Counter-Strike". Für mich wurde das Spiel erst 2002 wichtig. Ich brauchte den düsteren Shooter zur Entspannung, als ich meine Magisterarbeit in Englischer Literatur schrieb. Sie handelte von Instinkt und Intellekt bei D. H. Lawrence, und immer, wenn ich mir intellektuell ein paar Seiten abgerungen hatte, ballerte ich instinktiv auf schleimige Aliens.
Nach einigen Wochen hatte ich in der Kölner Uni-Bibliothek den Beinamen "die mit dem Ego-Shooter". Bald lud mich ein Kommilitone zu einer Multiplayer-Session ein, ein paar Jahre später heirateten wir.
Ein pixeliger Horrorfilm
Heute bewege ich mich wieder mit Maus und Pfeiltasten durch die technoide Laborumgebung, eine dystopische Welt aus Beton und Metall, ohne Tageslicht. Das Gebäude ist durch den Unfall beschädigt und radioaktiv verseucht, überall brutzeln Stromschläge, Sirenen schrillen, der Geigerzähler tickt. Das allein ist verdammt unheimlich.
Und außerdem lebensgefährlich: Alienkrabben springen mich an, und in grünen Teleporter-Blitzen materialisieren sich feindliche Kreaturen, auf die ich mit meinem Brecheisen eindresche. Manchmal begegne ich verängstigten Wissenschaftlerkollegen. Sie reden auf mich ein - helfen können sie mir nicht, aber sie geben Hinweise zu meiner Mission: Ich muss an die Erdoberfläche und eine Rakete starten.
Bis auf "Half-Life" habe ich kaum Shooter gespielt, der Neunzigerjahre-Dauerbrenner "Doom" etwa war mir zu stumpf. "Half-Life" aber ist atmosphärisch so dicht, dass es einen sofort angenehm gruselt. Für die Storyline hatte Valve einen Horrorautor verpflichtet und der Sounddesigner komponierte düstere Ambient-Tracks für das Spiel.
In unheimlichen Momenten muss ich den Sound ausschalten
Musik und Geräusche im Spiel gingen mir schon früher sehr nahe: Um ein wenig Distanz zu wahren, ließ ich den Sound nur über die scheppernden Notebook-Lautsprecher laufen, wenn ich allein zu Hause war.
In der Bibliothek aber saß ich mit Kopfhörern und tauchte tief in diese Welt ab. In besonders unheimlichen Momenten musste ich den Sound komplett ausschalten, um überhaupt weiterspielen zu können.
Auch die Handlung zieht mich ins Spiel hinein, denn "Half-Life" hat viele Elemente von Action und Adventure. Ich muss Kanäle und Abgründe überwinden, mir den Weg durch Lüftungsgitter schlagen und Kisten so positionieren, dass ich weiterkomme. Viele gescriptete Szenen sorgen dafür, dass ich mich wie in einem Horrorfilm fühle. Zugegeben, in einem aus heutiger Sicht pixeligen Horrorfilm - aber ich bin ganz froh, dass ich Blut, Gewalt und Ekel-Aliens nicht hochauflösend sehen muss.
Räume klären und ballern
"Half-Life" ist kein schweres Spiel. Ein bisschen springen und ducken - ansonsten muss ich Räume klären und ballern. Es gibt meist nur eine Möglichkeit voranzukommen, auf meinem Weg sammle ich mir mein Waffenarsenal zusammen: Maschinenpistole, Shotgun, Handgranaten, Raketenwerfer. Später kämpfe ich auch mit einer coolen Alienwaffe: Ich kann mit zielsuchenden Käfern schießen, die von den Wänden abprallen und nach einigen Sekunden explodieren.
Nach fünf Stunden ist meine Mission noch lange nicht zu Ende. Ich habe zwar auftragsgemäß eine Rakete ins All gestartet und bin dabei viele Dutzend Mal gestorben, doch dann werde ich festgenommen, finde mich in einer Müllpresse wieder und habe alle Waffen verloren. Feierabend.
Als ich mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage fahre, nehme ich meine Umgebung anders wahr. "Half-Life" hat mich wieder gekriegt. Mein Blick fällt auf die unheimlichen Lüftungsrohre, sofort bin ich alarmbereit.
Wo zur Hölle ist mein Brecheisen?