Buchauszug "Kein Netz" Hallo Sohn, ich zocke jetzt auch "Fortnite"

Gamer spielt "Fortnite": Das Verständnis von "Spielen" markiert wahrscheinlich den größten Eltern-Kind-Konflikt unserer Zeit
Foto: Chesnot / Getty ImagesDas Männchen mit der Pfanne rennt immer wieder vor die Wand. "Links drücken", sagt Anika zum 43. Mal, immer noch sehr sanft. Ich drücke links. Das Männchen läuft ein paar Schritte und prallt vor die nächste Wand. Jascha versucht erfolglos, weiteres Prusten zu unterdrücken. Ich fühle mich schrecklich ungeschickt, furchtbar alt und sehr einsam bei meiner ersten Nachhilfestunde, einem Kochspiel für Säuglinge.
Seit Jahrzehnten lehne ich Computerspiele ab. Ich schiebe kulturelle Bedenken vor ("Ballerspiele"), fürchte in Wirklichkeit aber vor allem meine Unfähigkeit. Ich beherrsche dieses gleichzeitige Gefummel an acht Knöpfen einfach nicht, was entwürdigend ist für einen alten weißen Mann, der sich ja dadurch auszeichnet, dass er praktisch alles draufhat: Grillen, Rotwein, Bohrmaschine, "Siedler von Catan". Nur Computerspiele nicht. "Tetris" war mein Ein- und Ausstieg. Glotzten meine Kinder stundenlang auf den Bildschirm, habe ich gezürnt, gelästert und den Untergang des Abendlandes ausgerufen. Was ich nicht kenne, lehne ich ab.

imago images/Eibner
Hajo Schumacher, geboren 1964, studierte Journalistik, Politologie und Psychologie. Von 1990 bis 2000 arbeitete er beim SPIEGEL, von 2000 bis 2002 war er Chefredakteur von Max. Er ist Journalist, TV-Moderator und Autor zahlreicher Bücher. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem neuesten Buch "Kein Netz" (Eichborn Verlag).
Meine DNA stammt nun mal aus der Zeit vor Controller, Joystick und Konsolen. Die Evolution war damals bei Skat angelangt. Womit wir beim wichtigsten Unterschied zwischen analog und digital aufgewachsenen Menschen wären: Die einen denken in Levels und Leben, nehmen synchron ein Dutzend Informationen auf, haben flinke Finger trainiert und betrachten Spiele als endlose Vergnügungsschleifen ohne Sieger und Verlierer. Immer wird gestorben, aber genauso oft wiederauferstanden. Meine Spiele haben Anfang und Ende, kennen Sieg und Niederlage und flankierende Gespräche.
Analoge Ötzis sind mit Malefiz, Risiko, Doppelkopf aufgewachsen, mit Schocken oder Skat. Man spielte, redete, gern auch Unsinn ("Karte oder Stück Holz") und genoss das Gefühl unterkomplexen Beisammenseins. Wer mit der "Großen Spielesammlung " im Kunstlederkoffer groß wurde, fremdelt mit dem scheinbar einsamen Starren auf einen Bildschirm. Unsere Kinder wiederum verdrehen die Augen, ertragen still die elterlichen Mahnungen und finden immer neue Wege, noch eine Runde zu zocken. Das Verständnis von "Spielen" markiert wahrscheinlich den größten Eltern-Kind-Konflikt unserer Zeit.
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29.05.2023 12.20 Uhr
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Jascha und Anika sind Mitte 20 und helfen mir bei meinem Projekt "Netzentdecker" , das mich jetzt mit meinem größten Dämon konfrontiert: Computerspiele. Seit Monaten redeten die beiden auf mich ein, ich müsse die Magie des Zockens kapieren, um die digitale Welt zu begreifen. Also gut: ein Nachmittag betreutes Spielen. "Sei offen", lautet mein Mantra, und: "keine Angst". Wir sitzen zu dritt auf dem Sofa, die beiden jungen Menschen sagen in quälend einfühlsamem Sonderschullehrerton "toll", wenn ich zwei Sekunden lang nicht gegen eine Wand gelaufen bin. Das Steuergerät mit seinen unzähligen Knöpfen ist mir fremder als ein Konzertflügel.
Wie abgebrüht muss man sein, um das pausenlose Sterben zu ertragen?
Zu gern würde ich die albernen Kochmützenmännchen einfach nur hassen. Leider zerrt da zugleich dieser Ehrgeiz. Und die Angst, mich vor den jungen Menschen auf ewig zu blamieren. "Anderes Spiel", befehle ich. Meine Ausbilder wählen das niedrigschwellige Autorennen "Beach Buggy". Immerhin: Beim vierten Versuch werde ich nur noch zweimal überrundet. "Gar nicht schlecht", lobt Anika. Jascha taucht zum Grinsen hinters Sofa.
Dritte Stufe der Gamer-Nachhilfe: "Red Dead Redemption II", ein komplexes Spiel mit Cowboys, Pferden, Schießereien, aber auch einem Schuss Dalai-Lama. Wüstes Ballern allein genügt nicht, gute Taten werden belohnt. Während Jascha und Anika bereits die halbe Sierra Nevada durchquert haben, versuche ich immer noch, in den Sattel zu klettern. Kaum habe ich den bockigen Gaul erklommen, rast er los.
"Links", wird Anika gleich rufen. Zu spät. Ich bin in einen Fluss gestürzt. Das Pferd ertrinkt. Wie grausam. Ich fühle mich schlecht, auch wenn der Klepper schon wieder am Ufer schnaubt. Das Tier lebt. Wie abgebrüht muss man sein, um dieses pausenlose Sterben zu ertragen, denke ich und ziele mit meinem Revolver auf die Herzgegend eines Banditen. Dann drücke ich ab und fühle mich wie ein Amokläufer.
Der Gamer stellt mich vor als älteren Herrn, der nur zugucken will
Was macht das ewige Geballer mit unseren Kindern? Der Ehrlichkeit halber müssen wir sagen: Wir wissen es nicht. Es gibt Jugendliche aus Bildungsbürgerhaushalten, die schon bei der geringsten Onlinedosis durchdrehen; es gibt Kinder aus verwahrlosten Verhältnissen, die auch nach Tausenden von Computermorden völlig normal durchs Leben laufen.
Zwei Phänomene allerdings können wir für unsere Familie und den Rest der Welt festhalten: die unfassbare Attraktivität des Gamings, die zweitens zu einer permanenten Ablenkung führt. Natürlich sind nicht alle der mehr als 30 Millionen Deutschen, die regelmäßig spielen, durchweg suchtkrank. Aber wer je versucht hat, einem Heranwachsenden mitten in der Partie das WLAN abzudrehen, weiß um die Kraft digitaler Spielerei.
Wie stark diese Zockmacht wirkt, habe ich bei John, 22, gelernt, einem Anfangszwanziger aus dem Ruhrgebiet, dessen Eltern finden, er hätte mit seiner Ausbildung deutlich weiter und erfolgreicher sein können, wenn er nicht sein halbes Leben vor dem Rechner zugebracht hätte. John war mir von einer Vertrauten empfohlen worden, als Prototyp eines sozialverträglichen Computerspielers.
John ist meist im Let’s-play-Modus unterwegs; er spielt öffentlich auf der Plattform Twitch. Jeder Mensch auf der ganzen Welt kann ihm bei Rocket League zuschauen, einem nicht gerade für Anspruch bekannten Spiel. Mit einem knubbeligen Auto versucht man, einen großen Ball ins Tor des Gegners zu befördern. Klingt banal. Ist es auch. Und deswegen bestens geeignet, um sich nebenbei im Chat zu unterhalten, über alles. John begrüßt jeden neuen Zuschauer, man flachst, lacht, blödelt. Die meisten kennt er seit vielen Jahren, aber nur wenige persönlich. Er stellt mich vor als älteren Herrn, der nur mal zugucken will.
John wohnt bei seinen Eltern, hat Abitur und ist für Soziologie eingeschrieben, ohne besonders euphorisch zu studieren. Er jobbt bei einer Eventagentur. Über seinen Bildschirmen hängt ein Bücherregal, ganz rechts steht "Tintenherz" von Cornelia Funke, dazwischen einige Potters, ganz links Das Kapital von "Karl Marx", das John bei einem Billiganbieter erworben hat, um sein politisches Wissen zu erweitern. Doch schon die ersten Seiten erwiesen sich als sperrig.
Ist der Junge bescheuert? Sicher. Aber wir Älteren sind es ja auch
Zocken ist lustiger. Allein mit Rocket League hat John etwa 1500 Stunden zugebracht, was 40 Arbeitswochen entspricht, also einem Jahr im öffentlichen Dienst. Bereut er die viele Zeit? "Nö", sagt er, "hat ja Spaß gemacht." Ist der Junge bescheuert? Sicher. Aber wir Älteren sind es ja auch. Jetzt mal ehrlich: Wie viele Stunden haben wir vor "Traumschiff" oder "Wetten, dass..?" oder superlangweiligen Fußballspielen zugebracht? Unsere Kinder verstehen oft nicht, was wir an saurem Wein oder bitterem Bier finden.
Andererseits triggert die Zockerei bei Eltern ein Dutzend bestialischer Emotionen. Wollte man nicht immer das Beste für das Kind, eine offene Gesprächskultur, Empathie, Miteinander und ein Stipendium in Harvard? Die Games sind leider stärker. Gegen das digitale Süßwarenangebot sind Eltern, die mit Büchern wedeln, machtlos. Doch weder Ausrasten noch Grummeln hilft. Die Games-Industrie hat die Welt verändert, die Ästhetik der Spiele prägt Hollywoodfilme und die Eventbranche. Ein E-Sport-Duell ist schneller ausverkauft als ein Rammstein-Konzert. Ich verstehe die neue Kultur nicht, auch wenn meine Nachhilfelehrer sich Mühe gegeben haben.
Erwischt man junge Erwachsene allerdings in einem offenen Moment, dann lässt sich erahnen, was das Gaming so alles bewirkt hat. Es klingt ein wenig nach einer Cannabis-Beichte. Sie geben zu, die Schule vernachlässigt, ihre Eltern beflunkert, die Spiele-Realität als deutlich spannender als das richtige Leben betrachtet zu haben. Wie viele Stunden, Tage, Hirnzellen hat unser Nachwuchs mit dem Legal High des Zockens verbraten?
Bang lesen wir die Berichte von Spezialkliniken für spielsüchtige Kids und reden uns tapfer ein, dass das mit uns nichts zu tun hat. In meinem Fall ist das eher eine Schutzbehauptung. Um ehrlich zu sein: Ich fand es oft sehr praktisch, wenn die Kinder wohlbehütet in ihren Zimmern hockten. Wer das hemmungslose Zocken, zu Recht, verflucht, hat auch die Pflicht, etwas dagegen zu tun.