
»Life Is Strange: True Colors« im Test
»Life Is Strange: True Colors« Trauer ist der Endgegner
Der Text enthält leichte Spoiler der Geschichte.
Am Ende geht es um Zugehörigkeit. Darum, einen Ort zu finden, an dem nicht Gleichgültigkeit herrscht und an dem selbst die großen Lücken des Verlusts und der Trauer einen Platz haben. In »Life Is Strange: True Colors« ist das der Antrieb, der die Spielerinnen und Spieler von Entscheidung zu Entscheidung treibt, bis sie am Ende ankommen – um dann von vorn zu beginnen.
»Life Is Strange: True Colors« ist der neue Teil der Reihe, die vor allem Geschichten vom Erwachsenwerden erzählt. Gemein mit seinen Vorgängern hat das Spiel, dass die Protagonistin wieder übernatürliche Kräfte hat, die sie erkunden und klug einsetzen muss. Anders als die bisherigen Teile erscheint »True Colors« aber nicht in nacheinander veröffentlichten Episoden. Wer das Spiel kauft, kann die gesamte Geschichte durchspielen, ohne auf Fortsetzungen zu warten.
Neubeginn und Ende
Die Protagonistin Alex Chen, in der Kindheit von Eltern und Bruder getrennt und in verschiedenen Heimen aufgewachsen, betritt das kleine Bergdorf Haven Springs. Hier hat sich ihr Bruder Gabe inzwischen niedergelassen und eine kleine Familie aufgebaut. Alex soll zu ihm kommen und endlich ein gesetzteres Leben führen. Doch bereits in den ersten zwei Stunden des Spiels stirbt Gabe unter recht mysteriösen Umständen. Fortan ist es an den Spielerinnen und Spielern, herauszufinden, wie es zu diesem Tod kam.
Aufgeteilt ist das Spiel in fünf Kapitel, die jeweils etwa zwei Stunden dauern. Nimmt man sich die Zeit, um alle Charaktere von Haven Springs kennenzulernen, an Spielautomaten zu zocken oder auch mal eine ruhige Minute sinnend an einem Bootssteg zu verbringen, können aus den zwei Stunden jedoch locker mehr werden.
Die Gabe – oder der Fluch – von Alex Chen ist, dass sie die Emotionen von Menschen spüren kann. Mehr noch, sie kann die Gedanken lesen, die zu diesen Gefühlen führen. So können die Spieler etwa an einer blauen Aura um einen Charakter erkennen, dass dieser traurig ist. Nähern sie sich der Emotion per Knopfdruck, können sie herausfinden, woher dieses Gefühl kommt, und diese Erkenntnis im Verlauf des Spiels nutzen. Etwa dann, wenn sie eines der vielen Gespräche führen, die einen wichtigen Teil von »True Colors« ausmachen. Immer wieder stehen die Spieler dabei vor Entscheidungen: Reagieren sie erbost oder verständnisvoll auf die Lügen einer Person? Wollen sie selbst die Wahrheit erzählen oder doch lieber das verletzliche Innere verstecken? Das Zusammenspiel vieler kleiner und einiger großer Entscheidungen verändert den Verlauf des Spiels und kann das Bedürfnis wecken, nach dem ersten Durchspielen direkt einen weiteren Durchlauf zu wagen.
Prägende Momente
Neben dem Faden, der sich narrativ durch das Spiel zieht – das Mysterium des Brudertodes –, sind es vor allem die Nebengeschichten und Beziehungen zu den Charakteren von Haven Springs, die das Spiel eindrücklich machen können. Etwa die Besitzerin des Blumengeschäfts, die langsam ihr Gedächtnis verliert. Ihre Furcht vor den verschwimmenden Gedanken wird plastisch gezeigt und es ist an den Spielerinnen und Spielern zu entscheiden, ob und wie sie ihr helfen wollen. Oder der Nachmittag mit einem trauernden Jungen, der durch ein Rollenspiel im Park aufgeheitert werden soll. In seiner Fantasie wird er zu einem Ritter mit strahlendem Schwert, der die Gegner wie seine trüben Gedanken zerschlägt. Bis dann doch die Trauer zurückkommt, wie eine lähmende Decke, die alles erstickt.
»Life Is Strange: True Colors« wechselt konstant die Erzählebenen: Mikro- und Makro-. Persönlich und öffentlich. Privat und politisch. Um schlussendlich doch zu zeigen, dass alles eins ist. Das Kleine steckt im Großen, das Persönliche wird durch die Öffentlichkeit geprägt und das Private bedingt das Politische – und andersherum. Ob es nun um die ganz eigene Trauer von Alex Chen um ihren Bruder geht oder um eine weittragende Verschwörung, die seit Jahren vertuscht wird – die Spielerinnen und Spieler entdecken die Verbindungen und erkennen das Geflecht, das alles zusammenhält.
In »True Color« ist der Verlust Mittelpunkt dieses Geflechts. Die Trauer und der Versuch, sie zu bewältigen, bleiben konstant. Selbst in die glücklichsten Momente kann die Traurigkeit eindringen. Selten werden Spielerinnen und Spieler so sehr mit den bleibenden Spuren des Verlusts konfrontiert. Sei es der Verlust der Zugehörigkeit, der Heimat, der Verlust eines geliebten Menschen oder der Zuversicht ins Leben. Auch wenn in einigen Momenten des Spiels die Geschichte etwas dünn sein mag, die Konsequenzen etwas beliebig, die emotionale Tiefe etwas abflachen mag – die Trauer bleibt das bestimmende Element. Sie schwebt über dem Örtchen Haven Springs und prägt jede Entscheidung.
Von denen werden die Spielerinnen und Spieler nach den gut zehn Stunden Spielzeit einige getroffen haben. Vielleicht werden sie hadern, zweifeln und bereuen – um dann in einem neuen Spieldurchlauf alles anders zu machen. Doch bleiben kann in diesem Wirrwarr aus Möglichkeiten eine Erkenntnis: Die Superkraft ist nicht, die Emotionen anderer zu lenken, sondern am Ende von allem die wohl machtvollsten Worte zu sprechen: »Ich vergebe dir.«