Rollenspiel-Würfel Zufallsgenerator für Fantasy-Nerds

Rollenspiel-Geschichte: Die Drachenwürfel
Sechs Seiten habe ein Würfel - nicht mehr und nicht weniger. Das dekretierte König Alfons X. von Spanien bereits im 13. Jahrhundert in einem Traktat über Spiele. Und so blieb es weitere 700 Jahre - in der gesamten europäischen Kulturgeschichte war ein Würfel stets ein Kubus, auf dessen Seiten ein bis sechs Punkte gemalt waren.
Das änderte sich 1974, als in den USA Dungeons & Dragons (D&D) erschien, das erste sogenannte Rollenspiel. Erzähl- und Abenteuerspiele wurden im darauffolgenden Jahrzehnt zu einem Riesenhit mit millionenfacher Auflage - und wenn Uneingeweihte das erste Mal mit D&D, Das Schwarze Auge oder Runequest in Kontakt kamen, fielen ihnen in der Regel zunächst die wunderlichen Würfel auf. Sie hatten Formen, die man bestenfalls aus dem Geometrieunterricht kannte: Sie waren vierseitig (Tetraeder), zwölfseitig (Dodekaeder) oder zwanzigseitig (Ikosaeder).
Wo kamen diese seltsamen Würfel her und wie gelangten sie ausgerechnet in ein obskures Fantasyspiel? Dave Arneson, einer der D&D-Erfinder, hatte in einem Spieleladen am Londoner Trafalgar Square in den Sechzigern seinen ersten zwanzigseitigen Würfel gesehen. Er kaufte ein halbes Dutzend. "Sie waren rot und schwarz und nicht sehr gut verarbeitet", erinnerte er sich später. Der Spielefan hoffte, die neuartigen Würfel für jene Militärsimulationen einsetzen zu können, die er damals mit Vorliebe spielte.
Würfel aus dem Schulbedarfsladen
Diese Offline-Spiele waren die Vorläufer von Computersimulationen wie "Command & Conquer". Sie hatten ein gravierendes Manko: Die Spieler mussten Zufälle ohne jenen elektronischen Generator simulieren, über den heute jeder Computer verfügt. Für Wahrscheinlichkeiten (wie die Chance, mit einer Kanone einen Treffer zu landen) waren in den Regelheften Prozentwerte angegeben; weil es aber nur sechsseitige Würfel gab, verwendeten die Spieler komplizierte, selbstgebastelte Probabilitätstabellen - oder zogen Lose.
Diesem mühsamen Procedere wollte Arneson durch seine Zwanzigseiter (W20) ein Ende bereiten. Der W20 war mit zwei Verteilungen von null bis neun nummeriert - mit einem roten und einem schwarzen Würfel konnte man folglich Prozentwerte darstellen. Doch Arnesons Mitspieler hielten die Würfel aus London für neumodisches Teufelszeug.
Arneson verwendete den W20 stattdessen erstmals in seinem Spiel Blackmoor, einem Vorläufer von D&D. Auch Gary Gygax, der zweite D&D-Erfinder, war von den neuen Würfeln äußerst angetan und suchte nach einem Lieferanten in den USA. In Palo Alto fand er eine Firma namens Creative Publications, die Sets mit einem W4 (gelb), W6 (pink), W8 (grün), W12 (hellblau) und W20 (weiß) vertrieb. Diese Würfel wurden von Arneson und Gygax zweckentfremdet: Die Kalifornier vertrieben ihre Sets nämlich nicht an Spieler, sondern an Schulen - Mathematiklehrer verwendeten die Würfel im Unterricht als Anschauungsmaterial.
In der Urversion von D&D waren nur der W6 und der W20 vorgesehen - weil es aber zu aufwändig gewesen wäre, die angelieferten Schulsets einzeln zu öffnen und die überschüssigen Würfel auszusortieren, erfanden Gygax und Anderson kurzerhand Regeln, um auch den W4 oder den W12 unterzubringen.
Don't touch my dice
Für viele Rollenspieler haben Würfel eine fast mystische Bedeutung, weil sie über das Wohl und Wehe der eigenen Spielfigur entscheiden. Ob der Axthieb eines Barbaren trifft, ob es einem Dieb gelingt, sich unbemerkt anzuschleichen - all dies wird im klassischen Pen & Paper-Rollenspiel durch Würfelwürfe entschieden. Entsprechend viel Zeit verwenden Fans auf die Auswahl - abergläubische Zeitgenossen sind gar der Ansicht, es bringe Unglück, wenn jemand ihre "lucky dice" berühre.
Die wohl größte Koryphäe, wenn es um aleatorische Feinheiten geht, ist der Amerikaner Lou Zocchi. Er packte für Arneson und Gygax in den Siebzigern die ersten D&D-Boxen und legte die Würfel bei. "Irgendwann explodierten die D&D-Verkäufe, und Creative Publications konnte nicht mehr genug Würfel liefern", erinnert sich Zocchi. "Die haben mir damals gesagt: 'Wenn du mehr brauchst, dann mach' es halt selbst.' Das habe ich dann auch getan." Zocchi, inzwischen Pensionär, wurde der erste US-Hersteller von Polyedern und erfand sogar allerlei weitere Formen, wie etwa den hundertseitigen Würfel: den Zocchihedron.
Zocchis Würfel lagen jahrelang den D&D-Boxen bei. Weil es zu aufwendig war, die in die Würfel eingeprägten Zahlen zu kolorieren, mussten das die Spieler seinerzeit übrigens selbst übernehmen: Dem Set lag ein kleines Stück Wachskreide bei, mit dem man über die Vertiefungen schrubbelte. Danach wurde der Würfel mit einem Tempo abgewischt. Das freilich war in grauer Vorzeit, heute gibt es Polyeder in jeder erdenklichen Form und Farbe: durchsichtig, gesprenkelt oder mit Elfenrunen verziert.
Vierseiter aus Mesopotamien
Rollenspieler gelten als Würfelnerds - und wer mit Zocchi parliert, merkt schnell dass an dem Vorurteil etwas dran ist. Der ehemalige Airforce-Sergeant hat es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, die Menschheit vor minderwertigen Würfeln zu warnen. "Die Verteilung vieler", doziert er, "ist ungleichmäßig." Stundenlang kann Zocchi sich über minderwertige Würfel erregen.
Daran ist die Sache mit der Malkreide schuld, beziehungsweise deren modernes Äquivalent: Im Rahmen des Produktionsprozesses werden Würfel mit Farbe überzogen und dann in eine Schleiftrommel gesteckt - ähnlich wie Edelsteine. Das hat zur Folge, dass nur in den Zahlen-Vertiefungen Farbe hängen bleibt. "Der Nachteil ist, dass die Kanten abgeschliffen werden", sagt Zocchi. Die Lösung seien Würfel mit scharfen Kanten, ähnlich jenen, die Spielcasinos verwenden. Praktischerweise ist die von Zocchi gegründete Firma Gamescience auf solche Präzisionswürfel spezialisiert.
Für Computerrollenspiele wie "World of Warcraft" braucht man freilich keine Würfel mehr. Und für Pen & Paper-Fans, die Sorge um die optimale statistische Verteilung haben, gibt es inzwischen Würfelsoftware. Programme wie die Dicebag-App auf dem iPhone simulieren alle wichtigen Polyeder. Aaron Witten, Chef der Würfelfirma Gamestation, zu der auch Gamescience gehört, sieht die Entwicklung dennoch entspannt. "Rollenspieler lieben ihre Würfel."
Viele Spielproduzenten verwendeten die ungewöhnlichen Würfel neuerdings für ihre Brettspiele, erklärt Witten. Dadurch sei für neue Kunden außerhalb der schrumpfenden Pen & Paper-Szene gesorgt. Dass die vielseitigen Würfel jetzt den Brettspiel-Mainstream erreichen, ist übrigens nicht wirklich ein Novum. Als der britische Archäologe Leonard Woolley 1922 den Königlichen Friedhof von Ur ausgrub, fand er unter den Grabschätzen auch ein 4500 Jahre altes Brettspiel. Dessen Würfel hatten keine sechs Seiten - sonder vier.