Videospiele »Stray« und »Endling« Die Fellknäuel der Apokalypse

Videospiel »Stray«: Endlich einmal Katze sein
Foto:Blue Twelve Studio
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Die kleine rote Katze springt elegant vom Dach zum Mauervorsprung, balanciert auf schmalen Simsen und schlüpft durch ein Fenstergitter. Drinnen stapeln sich Büchertürme, Topfpflanzen wuchern und ein Fernseher flimmert vor sich hin. Draußen liegt ein nur von Neonlicht erhelltes enges Straßenlabyrinth, das nicht zufällig an die exotischen Gassen des längst abgerissenen Hongkonger Mega-Slum-Blocks der Kowloon Walled City erinnert. Aber es fehlt etwas.
Was es nicht gibt in »Stray«, einem kürzlich erschienenen Action-Adventure mit Katze als Heldin, sind Menschen. Die sind seit Jahrzehnten ausgestorben. Was übrig geblieben ist, sind ihre Roboter, die in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Nostalgie die Rollen ihrer verschwundenen Schöpfer eingenommen haben. Jetzt bewohnen sie den unterirdischen Cyberpunk-Slum wie ein Museum, oder eher: wie ein Gefängnis. Diese Welt ist ein riesiger Bunker, aus ihm zu entkommen, ist unsere Aufgabe.
»Stray« ist der Überraschungs-Spielehit des Sommers. Im Juli erschienen, hat sich das Debüt eines südfranzösischen Indie-Studios aus dem Stand an die Spitze der Verkaufscharts der PC-Spieleplattform Steam katapultiert. Schon am Tag der Veröffentlichung spielten es allein dort über 63.000 Menschen gleichzeitig. Auf der Playstation wurde »Stray« ebenfalls häufig ausprobiert, einem Teil der Playstation-Plus-Abonnenten steht es ohne Extrakosten zur Verfügung.
Die Postapokalypsenkatze

So sieht »Stray« aus
Der wichtigste Grund für den Erfolg des Indie-Spiels ist offensichtlich: Es macht Spaß, als akrobatisches Fellknäuel eine faszinierende, toll gestaltete Welt zu erforschen. Erst recht, weil es hier keine nervigen Geschicklichkeitstests gibt: Die Katze kann weder abstürzen noch danebenspringen, die sanfte Herausforderung liegt im Finden des richtigen Wegs. Dazu kommt das Lösen meist einfacher Rätsel und das Absolvieren einzelner Fluchtpassagen. Eine gute Mischung, die Platz für die Geschichte lässt, die das tragische Schicksal der Menschheit nach und nach aufdeckt.
Drohende Apokalypsen sind in aktuellen Videospielen zunehmend ein Thema. Mit dem restlosen Verschwinden der Spezies Homo sapiens sapiens aber hat sich bislang kaum eines beschäftigt. Dass »Stray« dabei nicht deprimierend ausfällt, ist seiner niedlichen Hauptfigur zu verdanken. Und, bei aller Freude am Spiel, auch einer gewissen Oberflächlichkeit: Das Cyberpunk-Setting bleibt letztlich reine Kulisse, denn auch die Neonästhetik dieses Robotermärchens ist eher dekorativer Selbstzweck, Techno-Orientalismus inklusive.
Trotzdem: Die vier, fünf Stunden, die man mit der Katze hier unterwegs ist, vergehen wie im Flug, und am Ende steht – so darf man hoffen – ohnedies wieder ein Katzenleben in einer menschenfreien Natur. Viel mehr Kontrast lässt sich zu einem anderen aktuellen Spiel mit tierischem Protagonisten eigentlich nicht vorstellen.
Der Überlebenskampf einer Fuchsfamilie

So sieht »Endling« aus
»Extinction Is Forever«, so lautet der dramatische Untertitel dieses anderen Spiels. »Endling« ist ein Survival-Abenteuer, man steuert darin eine Füchsin, die schon ganz zu Beginn um ihr Leben rennt. Ein zerstörerischer Waldbrand ähnlich denen, wie sie in der Realität derzeit auch die Heimat der spanischen Entwickler dieses Spiels verwüsten , zwingt sie zur Flucht. In ihrem endlich erreichten neuen Unterschlupf bringt die Füchsin vier Welpen zur Welt; um deren Wohl hat man sich in den folgenden etwa vier Spielstunden zu kümmern.
»Endling« kommt in seinem handgemalten Cartoonstil wunderschön daher, im Unterschied zum Katzenabenteuer ist die Stimmung hier aber düster. Auf nächtlichen Ausflügen in die zunehmend durch Menschen und Maschinen zerstörte Welt gilt es, Futter für die Jungen sowie Spuren eines zu Beginn entführten Fuchsbabys zu finden. Außerdem muss den verbliebenen Kleinen etwas beigebracht werden; wie man klettert oder springt zum Beispiel. Wenn eines der Jungen verhungert, weil der Spieler oder die Spielerin nicht genug Mäuse, Fische oder andere Nahrung heimbringt oder Opfer größerer Raubtiere wird, geht das ans Herz.
Die Welt von »Endling« mag apokalyptischer wirken als die Realität, doch die zerstörte Natur und die brennenden Wälder sind nah an der Wirklichkeit. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts, so warnt die Wissenschaft, könnte der Mensch durch Zerstörung natürlicher Lebensräume bis zur Hälfte aller auf diesem Planeten lebenden Tiere ausgerottet haben.
Die Menschen, denen man in »Endling« immer wieder begegnet, sind im Spiel aber nicht nur gesichtslose Bösewichte. Der Jäger, der das Fuchsbaby entführt hat, will etwa auch nur seine Familie ernähren.
Wenn es ein Grundübel gibt, so legt es »Endling« ohne Worte nahe, dann ist es das System der Konzerne und des alles auffressenden Kapitalismus, das Mensch und Tier in den Abgrund treibt. Ironischerweise ist das ganz ohne Neon-Nostalgie auskommende Survival-Spiel mit der Füchsin damit näher an den Warnungen der vor 40 Jahren hochpolitischen Science-Fiction-Nische des Cyberpunk als »Stray«, das sich dessen Ästhetik geliehen hat.
So unterschiedlich beide Spiele sind: Sie ergänzen sich gut und erinnern daran, dass am Ende des Wegs, den unsere Zivilisation eingeschlagen hat, wohl die Ausrottung steht. Kein schlechter Beleg für das Potenzial des Mediums Videospiele, als Seismograf der Gegenwart zu dienen.