
»Valheim«
Spielehit »Valheim« Wikingerglück im Lockdown
Kaum veröffentlicht, wird »Valheim« bereits von mehr als einer Million Menschen begeistert gespielt. Kein Wunder: Die virtuelle Wikingerwelt kommt zur rechten Zeit – und erfüllt urmenschliche Bedürfnisse.
So sieht ein gutes Leben aus: Durch lichte Wälder streifen, Pilze und Beeren sammeln. Mit Pfeil und Bogen Rotwild jagen. Ein Wildschwein am Lagerfeuer braten. Mit Freunden gemeinsam im Morgengrauen losziehen, über frühnebelige Wiesen, den Sonnenstrahlen zusehen, wie sie durchs Laubdach glitzern. In einem Gewitter die stürmische See überqueren, im Mondlicht auf schneebedeckte Berge steigen. Bäume fällen. Ein Haus bauen, allein oder gemeinsam.
Genau das ermöglicht das neue Videospiel »Valheim« . Es ist ein sogenanntes Sandbox-Spiel, bei dem die Spieler keiner Storyline folgen müssen, keine konkrete Aufgabe haben, sondern sich ihr Umfeld und ihr Vorgehen darin selbst gestalten können, etliche Stunden lang.
In nur einer Woche wurde »Valheim« auf der Downloadplattform Steam eine Million Mal gekauft. Damit ist es für das kleine schwedische Indie-Entwicklerstudio Iron Gate überraschend zum Bestseller geworden. Was bemerkenswert ist, weil »Valheim« derzeit noch eine Baustelle ist. Es wird als Early Access angeboten, was bedeutet, dass das Spiel noch entwickelt wird, man vorerst also nur die Teile spielen kann, die von den Entwicklern bereits fertiggestellt worden sind.
Das Verkaufskonzept, das seit dem Erfolg von »Minecraft« beliebt ist und vor allem kleinen Studios helfen soll, die Entwicklungskosten zu finanzieren, ist umstritten. Zu viele halb fertig produzierte Spielruinen haben das Vertrauen vieler Spieler angekratzt. Zu oft seien vollmundige Versprechen nicht eingelöst worden, sagen Kritiker.
Gegen diese Vorbehalte sprechen die großen Erfolgsgeschichten, die das Modell auch hervorgebracht hat: Von »Minecraft« über »Factorio« bis hin zu »Slay the Spire« und dem Vorjahreshit »Hades« reicht die Palette von hervorragenden, irgendwann fertiggestellten Spielen, die sich so finanziert haben.
Mach, was du willst
Auch die Wikinger-Sandkiste »Valheim« ist schon im unfertigen Zustand ein Erfolg. Man könnte fies anmerken: Im Gegensatz zu Spielen wie »Cyberpunk 2077« werden die Spieler hier wenigstens vorab gewarnt, dass noch nicht alles fertig ist.
Aber beinahe: Schon jetzt kann man sich Hunderte Stunden mit diesem Spiel beschäftigen. Womit genau, das bleibt einem selbst überlassen. Als frisch verstorbene Wikingerheldin oder Wikingerheld findet man sich im idyllischen Jenseits von Valheim wieder und ist dort auf sich allein gestellt. Zumindest fast, denn bis zu zehn Spielerinnen und Spieler dürfen gemeinsam spielen; man kommt aber auch solo gut zurecht.
Wie im Survival-Genre üblich muss man sich mit einfachen Mitteln begnügen, um heimisch zu werden: Aus abgebrochenen Stöcken und gesammelten Steinen formt man erste Werkzeuge, es folgen stärkere Tools und immer komplexer werdende Konstruktionen. Sammeln und jagen, das ist der Kern der ersten Spielstunden in der riesigen Jenseitswelt. Und natürlich der Bau der ersten Unterkunft. Die Baumöglichkeiten reichen von simplen Hütten über riesige Wikingerhallen bis hin zu gewaltigen Brücken.
Schon damit haben viele Spielerinnen und Spieler genug zu tun, doch es gibt noch eine lose Rahmengeschichte, die doch so etwas wie eine Struktur anbietet: Neun Dämonen soll man im Auftrag Odins besiegen, monströse Wesen, die jeweils unterschiedliche Landstriche beherrschen.
Je weiter diese vom friedlichen Startgebiet weg sind, desto gefährlicher wird es, in dieser gewaltigen Landschaft voranzukommen: Wilde Tiere streifen herum, in Grabstätten lauern Untote. Riesige Trolle und andere Monster sorgen für Adrenalinschübe.
Ob man diese zusätzliche Aufregung braucht oder sich stattdessen mit Siedlungsbau und -erweiterung beschäftigt, darf man selbst entscheiden. Um an spätere Technologien und Rohstoffe zu kommen, muss man das Startgebiet aber wohl oder übel verlassen und es mit den Bösewichten aufnehmen.
Ein bekanntes Rezept, perfekt umgesetzt
Neu ist das alles nicht. »Minecraft«, »Terraria«, »Starbound«, »The Forest«, »The Long Dark«, »No Man's Sky«, »Subnautica«, »Conan Exiles«, »Rust«, »Ark« und ungezählte andere Spiele haben das vorgemacht, was »Valheim« nun in Perfektion für ein Publikum aus erfahrenen Survival-Spezialisten und Neueinsteigern abliefert. Selten fühlte sich die Lern- und Schwierigkeitskurve in einem solchen Spiel so richtig an, war die Balance zwischen Entdeckung, Abenteuer und Aufbauen so überzeugend.
Der Fokus im gemeinsamen Spiel liegt auf dem kooperativen Überleben in einer feindlichen, zufallsgenerierten Welt; nur wer unbedingt will, kann den Kampf »Player vs. Player« aktivieren. Weil die geteilten Welten auf privaten dedizierten Servern liegen, im einfachsten Fall auf dem Rechner eines Spielteilnehmers, ist das gemeinsame Spielen im relativ kleinen Kreis eine entspannte, fast intim-familiäre Angelegenheit.
Dazu kommt die besondere Stimmung: Die Polygonmodelle von Figuren und Monstern mögen anachronistisch eckig und die Texturen grob gepixelt sein, doch vor allem in Bewegung überzeugt das Spiel mit absolut zeitgemäßen Beleuchtungs- und Atmosphäre-Effekten. Wie sich der Pixelwald im Wind bewegt, wie das wilde Meer rauscht und Sonnenuntergänge für Stimmung sorgen, ist spektakulär und lässt einen immer wieder staunen.
Es vergehen viele, viele Stunden, bis man bemerkt, dass die Entwickler noch Inhalte schuldig bleiben; technisch und spielmechanisch gibt es an dieser Baustelle schon jetzt wenig zu bemängeln. Dass sich namhafte Twitch-Streamer bereits des Spiels angenommen haben, dürfte sich positiv auf die Verkäufe ausgewirkt haben.
Das Timing passt
Der wahre Grund für den außergewöhnlichen Erfolg von »Valheim« liegt aber wohl schlicht darin, dass es zum rechten Zeitpunkt kommt. Gegen Lockdown, Corona- und Krisenmüdigkeit sowie das subjektive Gefühl der Ohnmacht und des Eingesperrtseins stellt es einen virtuellen Sehnsuchtsort dar, der die Möglichkeit bietet, sich frei zu entscheiden, seinen eigenen Rhythmus zu finden, zu tun, was man will, ganz ohne Zwänge.
So wie hier stellt man sich das vor – das gute Leben: In der Natur herumlaufen, jagen, sammeln, gemeinsam mit Freunden etwas erleben und aufbauen. »Valheim« ist purer, bitter nötiger Eskapismus, ein Jäger-und-Sammler-Idyll für eine hoch technisierte Gesellschaft im Lockdown – weit weg von globalen Krisen und persönlichen Einschränkungen.
»Valheim« ist im Early Access für 16,79 € für Windows und Linux erhältlich; ein finaler Erscheinungstermin steht noch nicht fest.