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Watch Dogs: Hübsche Stadt, düsterer Held

Foto: Ubisoft

"Watch Dogs" Das erste Spiel für die Post-Snowden-Ära

Autofahren, schießen, Verbrechen verhüten, vor allem aber: hacken. Der Thriller "Watch Dogs" spielt in einer Welt totaler Überwachung - und fasziniert, indem er den Spieler zum Voyeur macht.

Wenn jemand an einer schweren Krankheit litt, habe ich in der Regel ein Auge zugedrückt. Auch bei Umweltaktivisten und freischaffenden Künstlern habe ich meist darauf verzichtet, ihre Konten zu leeren. Leser rechtsradikaler Blogs und Fans der Todesstrafe dagegen habe ich schon aus Prinzip um etwas Geld erleichtert. Oder wenigstens abgehört.

Das ist die eindrucksvollste Leistung, die Ubisofts lang erwarteter Open-World-Thriller "Watch Dogs" vollbringt: Das Spiel versetzt einen in einer Welt allgegenwärtiger Überwachung in die Rolle des Nutznießers. Der (Anti-)Held Aiden Pierce hat die Macht eines ein paar Jahre in die Zukunft gedachten NSA-Analysten: Mit Hilfe von Handy, Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware kann er über jede Person, der er begegnet, Informationen herausfinden: Beruf, Kontostand, schmutzige Geheimnisse. Obwohl die Arbeit an "Watch Dogs" lange vor den ersten Snowden-Enthüllungen begann, ist es das perfekte Spiel für die Post-Snowden-Ära.

"Betrügt seine Frau", "konsumiert Kinderpornografie"

Jedem Passanten haben die Spielentwickler etwas mitgegeben, das man auf den ersten Blick erfährt, wenn Aiden in der Nähe sein Super-Smartphone zückt. Manches ist harmlos oder einfach traurig - "Krebsdiagnose", "nimmt Antidepressiva"; manches heikel - "frequentiert SM-Websites", "betrügt seine Frau"; und manches justiziabel - "konsumiert Kinderpornographie". Für den Spielverlauf sind all diese Informationen ohne Belang, man bekommt sie aber automatisch mit. Bei totaler Überwachung sind Kollateralschäden an der Privatsphäre zwangsläufig.

Aiden Pierce nutzt als Trittbrettfahrer eine ctOS genannte Überwachungssoftware, mit der ein Unternehmen die ganze Stadt Chicago kontrolliert. Er ist eine Mischung aus Superhacker und Berufsverbrecher, der sich Zugang zum Betriebssystem der Stadt verschafft hat. Damit kann er nicht nur spionieren, sondern auch Ampeln so manipulieren, dass plötzlich alle grün haben, oder elektrische Poller und Klappbrücken hinauf- und hinunterfahren lassen, um Verfolger abzuschütteln.

Voyeur und Volksheld gleichermaßen

Vor allem aber kann Pierce jede Überwachungskamera anzapfen, sich sogar von einer zur anderen weiterhangeln. So dringt er tief in Gebäude ein, ohne auch nur einen Fuß über die Schwelle zu setzen, als Geist im Netz. Auch die Kameras von privat genutzten Geräten lassen sich anzapfen, vom Laptop bis zur Spielkonsole, und so heimlich mal komische, mal erschütternde Szenen beobachten. Für all das gibt es Belohnungen - "Watch Dogs" ist darauf angelegt, einen zum Voyeur zu machen. Man fühlt sich an die Sorgen des britischen Geheimdienstes GCHQ um seine Analysten erinnert, die beim Webcam-Spähen immer mit so viel "unerwünschter Nacktheit" konfrontiert werden.

Das ctOS-System sagt gelegentlich auch vorher, wo in der Gegend demnächst ein Verbrechen geschehen wird - "predictive policing". Aidan Pierce kann sich dann als Big-Data-Bürgerwehr betätigen, eine Straftat womöglich verhindern, bevor sie geschieht. Wenn er die Täter am Leben lässt - und nicht zu viele Passanten überfährt -, wird er so langsam zum Volkshelden. Eigentlich aber geht es Pierce darum, den Tod seiner Nichte zu rächen, die bei einem Anschlag auf ihn selbst umgekommen ist.

Vollgestopft mit Möglichkeiten zum Zeitvertreib

Weil "Watch Dogs" ein Spiel der "Grand Theft Auto"-Schule ist, verfügt der missgelaunte, im Grunde selbst höchst amoralische Held über ein wachsendes Arsenal, von der Pistole bis hin zum Granatwerfer. Es wird ziemlich viel geschossen, im Auto herumgerast und gesprengt. All das ist nötig, um die Hauptgeschichte durchzuspielen - die natürlich selbst mit dem Missbrauch allgegenwärtiger Totalüberwachung zu tun hat - und erst recht für die zahllosen Nebenmissionen, Minispiele und Zusatzaufgaben, mit denen das Spiel-Chicago vollgestopft ist. Von den eindrucksvollen Möglichkeiten für Online-Matches gegen andere Spieler ganz abgesehen.

"Watch Dogs" ist clever, hat tatsächlich etwas zu sagen und bietet viel Zeitvertreib fürs Geld. Aber wer "Grand Theft Auto" nicht leiden kann, wird kaum Freude daran haben.

Allen übrigen aber sei der Titel wärmstens ans Herz gelegt (aktuell allerdings mit Einschränkungen, was die PC-Version angeht ). Chicago sieht sehr hübsch darin aus, die Mechanik funktioniert fantastisch, die Geschichte ist zwar nicht sehr originell, aber zügig, und für ein Spiel enorm abwechslungsreich erzählt. Aiden Pierce ist ein so farbloser Held, dass er einem kaum längere Zeit im Gedächtnis bleiben dürfte - aber das Allmachtsgefühl, in jedermanns Privatleben blicken zu können, lässt einen so schnell nicht wieder los.

Nach zwanzig, dreißig Stunden "Watch Dogs" ertappt man sich dabei, dass man draußen, auf der echten Straße, nach den eingeblendeten Geheimnissen über den Köpfen entgegenkommender Passanten sucht. Und erschrickt.


"Watch Dogs" von Ubisoft, für Playstation 4, Playstation 3, Xbox One, Xbox 360, Wii U (angekündigt) und PC, ca. 60 Euro, keine Jugendfreigabe. Getestet wurde die PS4-Version.

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