Teures Auslaufmodell? Lauterbach will Warn-App »letztmalig« bis Mai 2023 verlängern

Warnung vor einem erhöhten Risiko auf der Corona-Warn-App: »Vergaberechtliche und haushalterische Erfordernisse«
Foto: Kira Hofmann / dpaZum zweiten Geburtstag der Corona-Warn-App vor gut einer Woche gratulierte das Bundespresseamt sich selbst: Die App sei zwar kein Allheilmittel, aber doch »ein wichtiger Helfer in der Pandemie«, hieß es in einer Jubiläumsmitteilung . Sie trage dazu bei, Infektionen früh zu erkennen und Infektionsketten zu unterbrechen. In kaum einem anderen europäischen Land werde die jeweilige App zur Pandemiebekämpfung so aktiv von der Bevölkerung genutzt wie hierzulande, hieß es.
Hinter den Kulissen ging es zu diesem Zeitpunkt nach SPIEGEL-Informationen weniger euphorisch zu. Verantwortlich für die App ist das Robert Koch-Institut, das dem Bundesgesundheitsministerium von Karl Lauterbach (SPD) untersteht. Betrieben wird sie von einem Konsortium aus Deutscher Telekom und SAP, das sie auch entwickelt hat. Dort hatte sich zuletzt der Eindruck breitgemacht, die Politik habe das Interesse an der Warn-App verloren – trotz der Infektions-Rekordwerte zu Jahresbeginn, der Warnungen des Gesundheitsministers vor der Sommerwelle und manch düsterer Szenarien für den Herbst.
Weitere Zukunft der App ungewiss
Tatsächlich ist die langfristige Zukunft der Warn-App momentan nicht gesichert. Bisher laufen die Verträge Ende des Jahres aus. Doch nun hat das Ministerium entschieden, zumindest eine Option zur Verlängerung des Vertrags bis Mai zu ziehen. Es sei das Ziel des Gesundheitsministeriums, diese Laufzeit »komplett und letztmalig bis zum 31. Mai 2023 auszuschöpfen«, sagt ein Ministeriumssprecher dem SPIEGEL. »Das würde bedeuten, dass auch im dritten Coronaherbst und Winter die App über den Jahreswechsel hinaus einsatzbereit wäre.«
Offen bleibt damit aber, wie es danach weitergeht, denn die ursprünglichen Verträge für die Warn-App wurden im Jahr 2020 für jeweils ein Jahr geschlossen, mit einer zweimaligen Verlängerungsoption. Damit endet die maximale Laufzeit für den aktuellen Vertrag Ende Mai 2023. Danach wären neue Verträge und wohl auch eine Ausschreibung notwendig. Der ursprüngliche Auftrag war mit Verweis auf die Pandemiesituation direkt und im Eilverfahren vergeben worden.
Noch ist allerdings nicht einmal die Verlängerung bis Ende Mai in trockenen Tüchern. Das Vorhaben werde gerade noch auf seine »vergaberechtlichen und haushalterischen Erfordernisse« geprüft, so der Ministeriumssprecher. Die Betreiber wurden gerade aufgefordert, für die kommenden Monate eine Budgetplanung vorzulegen. »Wir führen gerade Gespräche über eine Verlängerung«, sagt ein Telekom-Sprecher. Zu weiteren Einzelheiten könne man gegenwärtig nichts sagen, hieß es.
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Entwicklung und Betrieb sind teurer als bisher bekannt
Für die Unternehmen ist die Verlängerung um ein knappes halbes Jahr allenfalls die zweitbeste Nachricht. Sie warben schon seit Längerem um eine Nachnutzung der App und verwiesen auf deren breite Installationsbasis, sie sei wegen der breiten Akzeptanz in der Bevölkerung »viel zu schade fürs Museum der Kommunikation«, hieß es schon vor Monaten aus Betreiberkreisen. Unter anderem kursierte der Vorschlag, die Corona-Warn-App zu einer allgemeinen Bundes-Warn-App auszubauen. Auch die Idee eines zweiten Lebens als Gesundheits-App wurde ventiliert, in der etwa die elektronische Patientenakte (ePA) integriert werden und E-Rezepte in Apotheken eingelöst werden könnten.
Derlei Zukunftsplänen erteilt das Ministerium nun eine klare Absage. Man plane nur noch kleinere Verbesserungen der bestehenden Funktionen der WarnApp: »Darüber hinaus stehen keine Weiterentwicklungen an. Eine Verknüpfung mit ePA oder eRezept ist nicht vorgesehen.«
Dabei könnte auch der Preis der App eine Rolle spielen, denn auch der ist im internationalen Vergleich einsame Spitze: Das Gesundheitsministerium beziffert die Gesamtkosten für die Entwicklung und den Betrieb der Corona-Warn-App auf bislang rund 150 Millionen Euro. Ein Kostentreiber des Projekts war die rückständige Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem: Weil anders als ursprünglich geplant nicht die komplette Prozesskette digital organisiert werden konnte, musste die Telekom weiterhin neben einem technischen Callcenter eines für die Verifikation betreiben.
Ein Grundproblem waren passive Nutzer
Die deutsche Corona-Warn-App ist in der Wissenschaft, im Gesundheitswesen und in der Öffentlichkeit von Beginn an auf ein geteiltes Echo gestoßen. Frühe Hoffnungen, dass damit eine effektive digitale Pandemiebekämpfung möglich sei, erfüllten sich nicht. Es gab teils vernichtende Verrisse aus Gesundheitsämtern, von Nutzerinnen und Nutzern und der Politik. Aus der IT-Community dagegen wird der Open-Source-Ansatz der App gelobt, Digitalpolitiker verweisen gern auf die App als Vorbild dafür, öffentliche IT-Projekte in Zukunft quelloffen zu entwickeln. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber ist ein Fan und Fürsprecher.
Der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbauch begleitete sie von Beginn an kritisch-konstruktiv und machte konkrete Vorschläge zu ihrer Verbesserung. Als die App mit Beginn der ersten Omikron-Welle bei vielen eine Flut roter Warnungen mit »erhöhtem Risiko« anzeigte und erneut Zweifel an ihrer Funktionsweise aufkamen, sagte Lauterbach: »Gerade wenn es so viele Warnungen gibt, die dann zu Testungen führen, ist das ein ganz wichtiger Baustein zur Entschleunigung der galoppierenden Pandemie.«
In seiner Meldung zum zweijährigen Geburtstag der App hatte das Bundespresseamt auch Zahlen zur Wirksamkeit präsentiert. Demnach hatten Experten des Robert Koch-Instituts Anfang des Jahres ermittelt , dass etwa jede fünfte Person, die eine rote Warnung erhielt, tatsächlich positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurde und damit die Chance erhielt, die eigenen Kontakte über die App anonym zu warnen. Rund drei Millionen Nutzerinnen und Nutzer hatten das zu diesem Zeitpunkt getan und ihr positives Testergebnis geteilt. Dass dies nur freiwillig geschah und nicht automatisch, bleibt weiterhin ein Grundproblem der App – denn bei Weitem nicht alle positiv Getesteten konnten oder mochten sich dazu durchringen, ihre Mitbürger zu warnen.
Betreiber fordern Weiternutzung der App
Ob die Anwendung von Juni des kommenden Jahres an tatsächlich deaktiviert und von Millionen Smartphones wieder deinstalliert wird, bleibt abzuwarten – und wird wohl auch vom weiteren Pandemieverlauf abhängen. Die Betreiber drängen nach SPIEGEL-Informationen auf ein Spitzengespräch auf Vorstandsebene mit Gesundheitsminister Lauterbach nach der Sommerpause.
Parallel loten sie bereits mit anderen Ministerien die Chancen für eine anderweitige Nachnutzung jenseits des Gesundheitsbereichs aus – etwa als Bürger-App. Zahlreiche Nutzer seien durch die Anwendung erstmals mit digitalen Services in Kontakt gekommen. »Es wäre geradezu fahrlässig, dieses vorhandene Potenzial nicht weiterzunutzen«, heißt es in einem internen Papier des Konsortiums, das dem SPIEGEL vorliegt. Darin wird auch die Idee einer Weiterentwicklung zu einer »Bürger-App« vorgeschlagen, die etwa eine digitale Bürgeridentität (e-ID) und eine persönliche Brieftasche (E-Wallet) enthalten könne.