Sascha Lobo

Fehler der Altkanzlerin Merkelscherben

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Wir werden Angela Merkel noch vermissen, hieß es. Von wegen. Nach ihrem Abtritt lässt sich sagen: Die Altkanzlerin hat uns mehrere Scherbenhaufen hinterlassen. Hier ist eine Liste der fünf größten.
Angela Merkel im Dezember 2021: Stabilität kann zum trügerischen Wert werden

Angela Merkel im Dezember 2021: Stabilität kann zum trügerischen Wert werden

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FABRIZIO BENSCH / REUTERS

2021 fühlt sich in vielerlei Hinsicht so an, als sei es ein Jahrzehnt her, und niemand kann in die Zukunft schauen. Aber gibt es einen Mediensatz aus dem Jahr 2021, der sich als falscher herausgestellt hat als »Wir werden Angela Merkel noch vermissen«? Es hat nur ein paar Wochen seit der Amtsübergabe im Dezember 2021 gedauert, bis wir aufs Bitterste erkennen mussten, was viele, viele längst ahnten: Angela Merkels Vermächtnis ist ein Scherbenhaufen. Obwohl, ich bitte um Entschuldigung, das ist sachlich nicht korrekt, denn Merkels Vermächtnis ist eine Ansammlung verschiedener Scherbenhaufen. Deshalb folgen hier die Top-5-Merkel-Scherbenhaufen:

Top 5: Die Gewöhnung an Politik als Verwaltungsakt

Diesen Scherbenhaufen könnte man leicht auch auf Platz eins gewählt haben, und vielleicht ist es derjenige, der am schädlichsten nachwirkt. Denn Merkel hat als 16-Jahre-Kanzlerin nicht nur die Politik geprägt, sondern vor allem auch die Erwartung an Politik. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, dass und wie politische Visionen funktionieren. Wer jetzt mit dem unsäglichen Helmut-Schmidt-Quatsch (Visionen, Arzt) um die Ecke kommt, hat eine wesentliche Aufgabe der Politik des 21. Jahrhunderts nicht begriffen – den überlebensnotwendigen Wandel zwischen Klimakatastrophe, Globalisierung und Digitalisierung zu managen. Wofür man zwingend Visionen braucht, also eine attraktive politische Zukunftserzählung, oder zumindest die kleine rationale Schwester der Vision, nämlich die Strategie. Auch die fand sich im System Merkel selten.

Das Gegenteil einer politischen Vision oder langfristigen Strategie ist das Fahren auf Sicht, Merkels Politikstil, der in Krisen schnell zum Verfahren auf Sicht wird. Durch Merkel ist uns Politik ausschließlich als unemotionale Gegenwartsverwaltung vorgeführt worden, ergänzt durch eine radikale Nonkommunikation. Merkel hat selten ihre Politik und noch seltener ihre politische Motivation erklärt, und wie bei einer Geiselnahme haben wir uns irgendwann per Stockholm-Syndrom eingeredet, das ganz gut zu finden. Erst jetzt, wo Leute wie Annalena Baerbock, Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Robert Habeck eine neue, klare, offene politische Kommunikation betreiben, wird langsam das gigantische Versäumnis der Ära Merkel deutlich. Insofern ist die letzte Nachwirkung der Ära Merkel die Kanzlerschaft von Olaf Scholz, der die Merkelsche Nonkommunikation offenbar weiterzuführen gedenkt. Die SPD steht bei 19 Prozent in den Umfragen, die Kanzlerunterstützung ist noch tiefer abgestürzt – mal sehen, wie gut das von Scholz aufgetragene Prinzip Merkel im Multikrisenjahrzehnt noch klappt.

Top 4: Das digitale Staatsdebakel

Das ist so offensichtlich, man müsste es kaum mehr ausformulieren. Es ist 2022, und noch immer funktionieren im durchschnittlichen deutschen Regionalexpress weder Mobilfunk noch WLAN zwischen den Städten. Linksrheinisch strecken die Menschen ihren Handyarm Richtung Frankreich, um besseren Empfang zu haben, am Bodensee hofft man, zufällig in Schweizer oder österreichische Netze eingeloggt zu sein. Es gibt noch immer Orte in Berlin-Mitte, an denen man Edge hat, und Edge ist offline. Die digitale Infrastruktur in Deutschland ist ein Dauertrauerspiel, weil sich die vielen Regierungen Merkel nicht wirklich darum geschert haben. Dabei ist die Infrastruktur nur der Beginn: Deutschland hat die mit Abstand teuerste Corona-App der Welt, der digitale Führerschein auf dem Handy wurde kurz vor der Wahl veröffentlicht und kurz nach der Wahl zurückgezogen, die digitale Patientenakte ist so alt, dass sie noch »elektronische Patientenakte« heißt und irgendwie seit 2021 eingeführt wird, ohne dass es jemand bemerken würde, das digitale Rezept wird aus Lobby- und Unfähigkeitsgründen immer weiter nach hinten verschoben. 2019 sagte die damalige estnische Staatspräsidentin, sie sei überrascht, dass Deutschland in der digitalen Verwaltung 20 Jahre zurückliege . Wir sind nicht überrascht, sondern sauprimiert, eine Mischung aus sauer und deprimiert.

Top 3: Die schwarze Null

Die schwarze Null, die Folge der unter Merkel im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse, ist entgegen der landläufigen Meinung kein Konzept für einen ausgeglichenen Staatshaushalt, sondern eine Welthaltung: Sparradikalismus. Wenn man der schwarzen Null folgt, muss der Staat immer sparen. Wenn es gut läuft, muss man für schlechte Zeiten sparen, wenn es schlecht läuft, muss man ohnehin sparen. Aber diese Haltung färbt ab, sie soll auch abfärben, und dann werden in den Bürgerämtern neue Stellen nicht mehr besetzt, das Krankenhaus und die Schule geschlossen und die Buslinie auf dem Dorf fährt nur noch einmal am Tag. Durch die Schwarze-Null-Haltung, von den Merkel-Regierungen zur Fiskalreligion erhoben, kommen auch dringend notwendige Sanierungen zu kurz. Allein bei Schulen liegt der Sanierungsstau laut KfW bei 44 Milliarden Euro , der Bahn fehlen fast 50 Milliarden  für die Sanierung von Brücken und Gleisen, und das jetzt aufgelegte 100-Milliarden-Sondervermögen wird laut Fachleuten gerade so ausreichen, um die Bundeswehr verteidigungsfähig zu halten. Oder erst zu machen. Und das sind nur bisher fehlende Instandhaltungen, um die Substanz zu erhalten.

Die schwarze Null gibt der Finanzpolitik überproportional viel Macht, und dadurch kommen Investitionen grundsätzlich zu kurz. Dabei hätte man eigentlich massiv investieren müssen, denn Zeiten des Wandels erfordern Weiterentwicklung. Zum Beispiel hätte man das Sozialsystem umbauen müssen, um neuen Arbeitsformen im Zeitalter der Wissensarbeit gerecht zu werden. Aber mit der verdammten schwarzen Null im Kopf kann jede Reform und jede Investition abgeschmettert werden mit der knallwurstigen Frage: »Wer soll das bezahlen?« Und so sind am Ende fehlende Investitionen extrem viel teurer als jede Schuldenlast.

Top 2: Die Energie- und Klimafiaskos

Die groteske, deutsche Abhängigkeit von Gas, Öl und Kohle aus Russland ist nur das Fiasko mit den derzeit größten Nebenwirkungen. Die Hauptverantwortliche für die enge Bindung an Putin ist Merkel. Auch wenn die SPD oft die treibende Kraft gewesen sein mag, am Ende hat die Kanzlerin priorisiert und entschieden. Und sie hat sich immer wieder gegen erneuerbare Energien und für fossile Energieträger entschieden. In der Folge hat Merkel-Deutschland gedacht, dass die Energiewende geräuschlos, investitionslos und eigentlich von allein passiert. Mit jedem neuen IPCC-Klimabericht wurden die Warnungen dringender und aus Verzweiflung auch schriller, aber die ehemalige Klimakanzlerin hat Klimaruhe zur ersten Bürgerpflicht erhoben und viel zu wenig gemacht. So hat fast keine Form von digitaler Energieintelligenz eine echte Chance gehabt. Das Smart Meter zum Beispiel wurde 2016 gesetzlich vorgeschrieben – auf eine so absurd bürokratische Weise , dass im Jahr 2022 der Rollout noch immer ganz am Anfang steht . Langfristige Planung funktioniert eben nicht mit dem Merkel-Prinzip des Fahrens auf Sicht, und erst recht keine tief greifenden Reformen. Das Pariser 1,5-Grad-Ziel ist praktisch nicht mehr zu halten, und das ist natürlich nicht allein Merkels Schuld, aber eben ihre deutsche Mitverantwortung.

Top 1: Das Europa-Versagen

Die EU feiert sich heftig dafür, dass man Putin gegenüber einig sei. Es ist eine schale Einigkeit, denn die Fliehkräfte der EU sind größer als je zuvor. Der Brexit hat Europa durchgeschüttelt und Ungarn schlittert in die Diktatur. Natürlich ist auch hier Merkel nicht die einzige Verantwortliche – aber ihre stabilitätsfixierte Reformskepsis hat massiv dazu beigetragen. Wie auch ihr radikales Beharren auf der Austerität (die Ideologie hinter der schwarzen Null) so viele Länder an den Rand des Erträglichen gebracht hat, dass dadurch kaum kittbare Risse im EU-Fundament entstanden sind. Ganz ähnlich hat sich ausgewirkt, dass Merkel die vielfachen lautstarken Warnungen der osteuropäischen Länder vor Putins Fascho-Imperialismus nicht ernst genommen hat. Sondern die Putin-Abhängigkeit von Energie bis Infrastruktur weiter ausgebaut hat. Noch im November 2021 wurde der Verkauf einer der wichtigsten Raffinerien Deutschlands an Rosneft abgeschlossen , nachdem direkt nach der Krim-Annexion der größte Erdgasspeicher an Gazprom verkauft worden war . Die erwähnte Merkelsche Visionsaversion hat sich bezogen auf die EU wahrscheinlich am schlimmsten ausgewirkt. Mehrfach hat etwa Macron bei Merkel darum gebettelt, die EU zu reformieren und ist an »Madame Non« stets gescheitert. Weil das schlimmste, was Merkel sich überhaupt vorstellen konnte, noch immer war: Deutschland als »Zahlmeister«. Für jede auch nur minimale, theoretische Chance darauf hat Merkel noch den letzten Rest einer europäischen Idee geopfert.

Ohne jede Frage gab und gibt es Vorteile und positive Folgen von Merkels Amtszeit, etwa dass ihre persönliche Integrität nach wie vor außer Frage steht. Oder, dass sie sich nach ihrem Ausscheiden aus der Politik bisher weder ins politische Tagesgeschäft einmischt noch in den Dienst zweifelhafter Diktatoren eingetreten ist oder in Korruptionsstrudel geraten ist. Das ist bei Altkanzler:innen ja nicht selbstverständlich.

Und natürlich muss man anerkennen, dass Merkel ihr oberstes, vielleicht einziges, echtes Ziel – Stabilität um jeden Preis – für Deutschland stets erreicht hat. Aber eben trotz ihrer jahrelang unbestreitbaren Vorbildfunktion und Machtfülle nur für Deutschland, und so ist auch in diesem Verdienst Merkels ein Makel verborgen, der noch zum Scherbenhaufen werden könnte. Stabilität kann leicht umschlagen in Erstarrung, ohne dass man es sofort bemerken würde. Dann wird die konservative Position, die bis gestern noch vernünftig schien, plötzlich radikal, weil sie sich gegen den überlebensnotwendigen Wandel stemmt. In einer Welt, die sich so schnell und tief greifend wandelt, kann Stabilität zum trügerischen Wert werden.

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