Twitter-Debatte über Alltagssexismus Was wurde eigentlich aus dem #Aufschrei?

#Aufschrei-Initiatorin Wizorek: Bei der re:publica gefeiert wie ein Popstar
Foto: Anne KochHamburg - "Hätte er sie abgelehnt, weil sie zu kleine Brüste hat, hätte es wieder einen #Aufschrei gegeben!", kommentiert ein Twitter-Nutzer eine TV-Datingshow. "Warum brüllen #Aufschrei-Tanten nur 'Mehr Frauen in Aufsichtsräte' und nie 'Mehr Frauen zur Müllabfuhr'?", schreibt ein anderer. Aktuelle Kurznachrichten mit dem Hashtag #Aufschrei deuten nicht darauf hin, dass sich der Sexismus in Deutschland erledigt hat, dass sich die Wahrnehmung von Frauen in der Öffentlichkeit geändert hätte.
Dabei war der #Aufschrei laut. Im Januar 2013 berichteten Frauen erst auf Twitter von blöden Sprüchen, unpassenden Berührungen oder herablassenden Titulierungen, dann griffen Nachrichtenseiten im Web das Thema auf, danach Zeitungen, das Fernsehen, sogar internationale Medien.
Nie zuvor wurde einem deutschen Schlagwort auf Twitter so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Anne Wizorek gehört zu den Frauen, die den kollektiven Aufschrei groß machten:
Kaum hatte sie das Hashtag gesetzt, gab die damals 31-Jährige Interviews, erklärte ihre Sicht auf den Feminismus, trug die Botschaft der Twitter-Nutzerinnen in Günther Jauchs TV-Sendung. "Dass das Hashtag überhaupt noch verwendet wird, zeigt, dass es noch immer als Label gegen den Alltagssexismus gilt", sagt Wizorek. Immerhin, sagt sie.

Wizorek in der Talkshow von Günther Jauch (Januar 2013): Deutschland diskutiert über Sexismus
Foto: Karlheinz Schindler/ dpaGewappnet gegen die "Hater"
Sie arbeitet als Beraterin für digitale Medien und twittert als @marthadear ; für sie hat sich seit dem #Aufschrei alles verändert. Bei der Internetkonferenz re:publica im Mai 2013 wurde Wizorek gefeiert wie ein Popstar. "Ich bin immer noch ziemlich perplex, wenn ich zurückschaue", sagt sie. Denn auf die Tweets und die Talkshows folgten nicht nur Zustimmung von betroffenen Frauen oder Hass-Mails, sondern auch Buchanfragen. Auf Interviewanfragen an Wizorek meldet sich heute die Pressesprecherin eines Buchverlags.
Dass Wizorek nun Autorin ist, findet sie ziemlich "abgefahren". Mit ihrem Buch "Weil ein #Aufschrei nicht reicht" will sie die feministische Agenda erklären, den wissenschaftlichen Stand darstellen und andere Frauen zum Mitmachen motivieren. Sie fordert "eine Welt, in der Mädchen und Frauen mehr zugetraut wird als Schminken und Schuhkauf". Ihre Twitter-Mitstreiterinnen der ersten Stunde kennt sie mittlerweile auch offline. Sie durften das Buch vorab lesen und mitreden.

#Aufschrei bei Twitter: Immense Aufmerksamkeit
Foto: DER SPIEGELEs erscheint in diesen Tagen, Wizorek rechnet wieder mit großem Widerstand. 2013 prasselte die "schiere Masse von Negativität" noch überraschend auf sie ein. Kritiker versuchten, den Protest als nicht repräsentativ kleinzureden, vor allem wurden Wizorek und ihre Mitstreiterinnen bepöbelt, beleidigt und bedroht. Sie sei nun besser gewappnet, sagt sie. Von den "Hatern" will sie sich auch in Zukunft nicht abhalten lassen, ihre Meinung zu sagen.
Der Mann, der zu Beginn im Mittelpunkt der Debatte stand, sagte lange nichts. Auslöser des Aufschreis war ein Bericht im "Stern": Eine Reporterin hatte Rainer Brüderle Aufdringlichkeit und anzügliche Bemerkungen vorgeworfen. "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen", habe er gesagt. Der damalige Spitzenkandidat der FDP saß das Thema rund ein Jahr lang aus. Erst kurz vor der Vorstellung seines Buches ("Jetzt rede ich!") äußerte Brüderle sich: Was er gesagt hatte, habe er nicht böse gemeint. Anschließend sei er zum Opfer einer Medienkampagne geworden.

Brüderle im Januar 2013: Er schwieg lange und sprach dann von einer Kampagne
Foto: Michael Sohn/ APGaucks Wende
Über die Spekulationen, die Aufschreidebatte habe die FDP gestürzt, kann Wizorek nur lachen. Verantwortlich will sie vielmehr dafür sein, dass es das Thema Sexismus im Alltag erst in die Öffentlichkeit, dann in die Politik geschafft hat. Die Anfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zum Thema Belästigung am Arbeitsplatz stiegen 2013 deutlich an, die Dunkelziffer sei jedoch weiterhin hoch. Erstmals wurde ein Hashtag und damit auch Wizorek mit dem "Grimme Online Preis" ausgezeichnet.
Auch wenn die damalige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) und Bundeskanzlerin Angela Merkel keine klare Stellung bezogen, vollzog Bundespräsident Joachim Gauck eine Wende: In einem SPIEGEL-Interview sprach Gauck zunächst von einem Tugendfuror auf Twitter. Er könne keine "gravierende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen" erkennen.
Die Initiatorinnen antworteten damals mit einem erbosten Brief an den Bundespräsidenten. Zum Weltfrauentag Anfang März schlug Gauck dann andere Töne an: "Auch in unserer Gesellschaft, die uns allen so entwickelt und reif erscheint, gibt es noch Benachteiligung, auch Diskriminierung und alltäglichen Sexismus."
Und was änderte sich tatsächlich? Bei den Koalitionsgesprächen im Dezember einigte sich Schwarz-Rot auf die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig gibt sich kämpferisch, doch ihr aktueller Referentenentwurf kommt zahm daher. "Die Quote ist ja nur der Anfang vom Anfang", sagt Wizorek. Da sei noch Luft nach oben, mindestens 40 Prozent der Frauen in Führungspositionen seien wünschenswert und auch wirtschaftlich für die Unternehmen sinnvoll, sagt sie. "Aber es ist super, dass der Schritt gegangen wird. Wir müssen jetzt am Ball bleiben."
Außerdem in dieser Serie erschienen: Nokia, Hamburgs Ex-Bürgermeister Ole von Beust, Talkshowmoderatorin Arabella Kiesbauer, Ehec, Steinkohlebergbau, Radstar Jan Ullrich, Ägyptens Ex-Diktator Hosni Mubarak, Aids, Deutschlandstipendium, Transrapid, Dioxin, Prokon, Chatportal Knuddels, "Costa Concordia" und viele mehr.
Im Überblick: Alle Folgen der Serie "Was wurde aus...?