Bürgerüberwachung EU drängt Deutschland zu Datensammelei

Die EU macht Druck, Deutschland bremst: Die Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung sorgt für Streit zwischen Brüssel und Berlin. Jetzt stellt Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger klar: Eine Blitzeinführung der umstrittenen Vorgabe wird es nicht geben.
Gegner der Vorratsdatenspeicherung (Archivbild): Kein adäquater Ersatz

Gegner der Vorratsdatenspeicherung (Archivbild): Kein adäquater Ersatz

Foto: dapd

Hamburg - Der EU-Kommission kann es offenbar nicht schnell genug gehen: Die Brüsseler Behörde hat ein Verfahren gegen Deutschland wegen fehlender Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung eingeleitet.

In einem offiziellen Schreiben fragt die Kommission, warum die entsprechende Vorgabe noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden sei, berichtet die "Neue Osnabrücker Zeitung". Innerhalb von zwei Monaten muss das Bundesjustizministerium nun erklären, weshalb die massenhafte Datensammlung stockt.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte SPIEGEL ONLINE, man sei mit der "Kommission seit langem über die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im Gespräch". Natürlich werde das Ministerium den aktuellen Stand der Überlegungen der Kommission erläutern. Leutheusser-Schnarrenberger lehnt eine schnelle Umsetzung der Richtlinie jedoch ab. "Bürgern und Wirtschaft ist nicht vermittelbar, dass während der laufenden Überarbeitung der europäischen Richtlinie zu alten Vorschriften zurückgekehrt werden soll. Die Kommission hat selbst angekündigt, dass sie die europäische Regelung ändern will", begründet sie ihre Haltung.

EU-Kommission will die Richtlinie überarbeiten

Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet die Mitgliedstaaten, Telefon- und Internetdaten für mindestens sechs Monate zu speichern. EU-Richtlinien sind bindend und müssen in nationales Recht umgesetzt werden. Sieht die Kommission als Hüterin der Verträge dies nicht gewährleistet, kann sie das Verfahren letztlich vor den Europäischen Gerichtshof bringen.

Die EU-Kommission hatte im April einen Prüfbericht  zur Umsetzung der Speicherrichtlinie vorgelegt. Die Schlussfolgerung: Brüssel werde eine Revision der gegenwärtigen Struktur der Vorratsdatenspeicherung vorschlagen. Den Einfluss der Speicherung so vieler personenbezogener Daten über jeden Bürger auf "das Verhalten" will die Kommission weiter untersuchen lassen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte diesen Aspekt - die potentiellen gesellschaftlichen Folgen eines permanenten Gefühls der Überwachung - in seiner Urteilsbegründung explizit zum Thema gemacht. Leutheusser-Schnarrenberger hatte noch als Oppositionspolitikerin gegen die Vorratsdatenspeicherung Verfassungsbeschwerde eingelegt - und von den Karlsruher Richtern im März 2010 in weiten Teilen Recht bekommen. Allerdings verwarf das Verfassungsgericht nur die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie, nicht die Speichervorgabe an sich.

Die Richtlinie ist allerdings auch in anderen EU-Ländern aus Datenschutzbedenken nicht umgesetzt worden. In Schweden etwa stellt sich die Regierung quer, in Rumänien und Tschechien haben Verfassungsgerichte die Einführung gestoppt. Leutheusser-Schnarrenberger sieht sich durch den europaweiten Widerstand bestätigt: "Über hundert Nichtregierungsorganisationen engagieren sich in Brüssel gegen die Massenspeicherung der Telefondaten von fast 500 Millionen Europäern. Unzählige Bürger und große Wirtschaftsverbände laufen Sturm. Datenschutzbeauftragte in Deutschland und Europa kritisieren die Datenberge."

Leutheusser-Schnarrenberger gegen "massenhafte Speicherung aller Daten"

Die Bundesjustizministerin lehnt eine Umsetzung der Richtlinie ab, die nicht auf die Datenschutzprobleme eingeht: "Die FDP streitet für eine neue Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Ich habe einen Gesetzentwurf in die Ressortabstimmung gegeben, der ohne die anlasslose massenhafte Speicherung aller Daten auskommt."

Gemeint ist ein Gesetzentwurf aus dem Justizministerium. Der sieht vor, dass ohnehin vorhandene Daten grundsätzlich nur beim Anfangsverdacht einer Straftat gesichert werden, damit die Telekommunikationsfirmen sie nicht routinemäßig löschen: ein sogenannter Quick Freeze. Provider müssen Verkehrsdaten dann bis zu einen Monat lang speichern. Erst nach Anordnung eines Richters werden die von den Zugangsprovidern erhobenen Daten den Ermittlern übergeben. Bei Gefahr im Verzug soll eine staatsanwaltschaftliche Eilanordnung ausreichen.

Unabhängig davon sollen IP-Adressen von den Providern für die Dauer von sieben Tagen gespeichert werden, von jedem Internetnutzer, flächendeckend und ohne Anlass - allerdings ohne Informationen über aufgerufene Daten und sonstige Inhalte. Die Provider müssen den Strafverfolgungsbehörden zu einer IP-Adresse Name und Adresse liefern.

Union gegen "Quick Freeze"

Auch im schwarz-gelben Kabinett schwelt der Streit um die Speicherung. Leutheusser-Schnarrenberger hat sich bislang mit einer Neuregelung Zeit gelassen. Das von ihr als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung favorisierte Quick-Freeze-Verfahren lehnen Politiker der Union ab.

In Deutschland geht Kritikern selbst der Kompromissvorschlag der Justizministerin, der außerdem eine sieben Tage lange Speicherung vorsieht, noch zu weit. Alex Salomon, Landtagsabgeordneter der Grünen in Baden-Württemberg, sagte am Dienstag, der Quick-Freeze-Vorschlag sei ein Versuch einer möglichst datenschutzfreundliche Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. "Trotzdem bleibt das Grundproblem der Vorratsdatenspeicherung bestehen." Gemeinsam mit der Europa-Fraktion werde man sich dafür einsetzen, die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zu kippen.

Mit Material von AFP
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