
Künstliche Intelligenz Eines der mächtigsten Instrumente der Menschheitsgeschichte


Ein Werbetext von der ChatGPT-Website: »Drei essen im Kindergarten, und die Mittagsmahlzeiten wird im Büro gegessen«
Foto: Richard Drew / APDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
GPT-4 ist da, und es ist das machtvollste Instrument, das je von Menschen geschaffen wurde. Die Firma OpenAI hat soeben die neueste Version ihrer künstlichen Intelligenz für einen Teil der Nutzer*innen zugänglich gemacht. ChatGPT sorgt seit November 2022 für Furore, nicht nur weil es die am schnellsten wachsende digitale Anwendung aller Zeiten ist. Sondern vor allem dadurch, dass für die breite Öffentlichkeit zum ersten Mal greifbar wurde, was künstliche Intelligenz eigentlich ist und was sie kann.
In wenigen Wochen hat sich ChatGPT in Millionen alltägliche und berufliche Abläufe in Deutschland eingeschlichen. Das Programm schreibt Hausarbeiten für die Schule ebenso wie knappe Zusammenfassungen von endlosen Textwüsten. Oder es erstellt mit einem einfachen Befehl vegane Speisepläne für fünf Personen und bedenkt dabei auch die Vorgabe, »dass drei davon im Kindergarten essen und die Mittagsmahlzeiten im Büro gegessen werden« und ein Rezept mit dem Thermomix gekocht werden soll. Diese eindrucksvollen und vor allem breit einsetzbaren Fähigkeiten des bisherigen ChatGPT beruhte auf den KI-Versionen GPT-3 beziehungsweise GPT-3.5 (einer Zwischenversion).
GPT-4 hat nun eine Reihe von neuen Fähigkeiten, die die kommende Macht der künstlichen Intelligenz noch umfassender erahnen lassen. Der dabei aus technischer Sicht vielleicht wichtigste Punkt ist die neue Multimodalität. Das bedeutet, GPT-4 kann nicht nur mit Sprache umgehen, sondern zum Beispiel auch mit Bildern. Die KI versteht jetzt sogar den Kontext von Bildern, OpenAI hat dafür ein einfach verständliches Beispiel gefunden. Man sieht das Bild von Hunderten Heliumballons , die mit einer Schnur am Boden gehalten werden. Auf die Frage, was passiert, wenn man die Schnur durchschneidet, antwortet GPT-4: Die Ballons würden wegfliegen.
Das mag sich für Lai*innen mittelmäßig beeindruckend anhören, und die Funktion ist auch nicht für alle freigeschaltet. Aber die dahinterstehenden Fähigkeiten werden in einer famos unbeholfenen Demonstration von GPT-4 für Entwickler durch einen Mitgründer von OpenAI klar. Er zeichnet die Skizze einer Website auf Papier, schreibt in eckige Klammern die Anweisungen für die darauf stehenden Inhalte, er lädt ein Foto davon hoch, und GPT-4 macht daraus eine funktionierende Website . Hatte ChatGPT bisher nur Ohren und einen Mund für Textarbeiten, hat es jetzt auch Augen und einen Beamer, um die Metaphorik komplett zu sprengen.
GPT als Sprachgenie
Hinzu kommt, dass die KI von OpenAI inzwischen weitere Sprachen gelernt hat, was ihr sehr viel weitere Einsatzmöglichkeiten eröffnet: ChatGPT auf Basis von GPT-3 beherrschte Englisch mit Abstand am besten. Aber wie nebenbei hatte es auch mehr als hundert verschiedene Sprachen gelernt, darunter Deutsch, Französisch, Ukrainisch, Kisuaheli, Afrikaans, Urdu, Paschtu sowie jeweils mindestens ein halbes Dutzend Sprachen, die vorrangig in Indien und in China gesprochen werden. Dazu kamen mindestens zehn bekanntere Programmiersprachen wie C++, Javascript, Ruby oder Python.
GPT-4 aber beherrscht wohl alle großen Programmiersprachen, und mehr noch: In der erwähnten Demo wird eine unscheinbar wirkende, in Wahrheit aber radikal transformative Anwendung von GPT-4 gezeigt: ein Programmierassistent. Der in der Lage ist, auf simplen, in menschlicher Sprache gehaltenen Zuruf ganze Software-Landschaften zu schreiben. Oder in den Tiefen des Internets bereits bestehende Software zu finden, die die gleichen Funktionen erfüllt. Und sie anschließend auf Fehler zu untersuchen, zu korrigieren und in einen Code einzubauen.
Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung von GPT-4 zeigen technisch versierte Nutzer auf Twitter, welches Potenzial der Chatbot hat:
So zeigt ein Nutzer auf Twitter, wie er einen sogenannten Smart Contract, also einen programmierten, automatischen Vertrag auf Basis des Kryptowährungsnetzwerks Ethereum von GPT-4 überprüfen lässt. Die KI findet umgehend nicht nur kritische Fehler, sondern stellt auch fest, dass es sich um eine Art von Hightech-Betrug handelt. Dann beschreibt GPT-4, wo genau durch die Fehler entstandenen Möglichkeiten zum Hacken des Smart Contract sind – und macht konkrete, codebasierte Vorschläge dafür, wie man diese Möglichkeiten ausnutzen kann.
Ein weiterer Nutzer führt vor, wie er in unter 60 Sekunden das Videospiel »Pong« programmieren lässt und den beim ersten Versuch ausführbaren Code benutzt, um sofort loszuspielen.
I don’t care that it’s not AGI, GPT-4 is an incredible and transformative technology.
— Pietro Schirano (@skirano) March 14, 2023
I recreated the game of Pong in under 60 seconds.
It was my first try.
Things will never be the same. #gpt4 pic.twitter.com/8YMUK0UQmd
Könnte die Intelligenz Informatikerjobs überflüssig machen?
In dem zweiten Beispiel wird ein Aspekt der künstlichen Intelligenz deutlich, der selbst von den meisten Fachleuten bisher frühestens Ende des Jahrzehnts erwartet wurde: Die (erneute) Transformation der Software-Entwicklung durch KI-Automatisierung. Bisher konnten Eltern ihren Kindern mit allerbestem Gewissen raten, Software-Entwickler*innen zu werden, die werden schließlich immer gebraucht und deshalb gut bezahlt. Diese Gewissheit ist bis zu einem bestimmten Punkt zerstoben.
Faktisch werden gute Software-Entwickler*innen gebraucht und hervorragend bezahlt. Mit GPT-4 teilt sich die Arbeit an Software aber noch stärker auf: Ein großer Teil der bisherigen Softwareherstellung, manchmal als »Codeschrubben« verballhornt, hat wenig mit großartigen Fähigkeiten oder Ideen zu tun und viel mit schnöder, aber zeitintensiver Umsetzung. Dieser Part kann jetzt ziemlich weitgehend automatisiert werden.
Das gilt auch für mittelmäßig beliebte, aber notwendige Arbeiten wie die Dokumentation von Code oder die mühsame Fehlerfindung und -behebung. Die gesellschaftlichen Folgen: Gute Entwickler*innen werden noch stärker gesucht und bezahlt, nicht ganz so gute Entwickler*innen stehen in direkter Konkurrenz zu GPT-4 oder den Nachfolgern, was sich auch in der Bezahlung niederschlagen wird.
Automatisierung nach dem App-Store-Prinzip
Der KI-Automatisierungsdruck wird durch GPT-4 mit großer Geschwindigkeit in alle möglichen Branchen Einzug halten. Auch weil OpenAI eine API anbietet, also eine Schnittstelle, die alle Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz für die Maschinen von Kooperationspartnern nutzbar macht. Die Folge wird etwa vergleichbar sein wie die Öffnung des App Stores für Apple: In kürzester Zeit entstehen Millionen hochspezifischer Anwendungen, von denen damals Apple und heute OpenAI gar keine Ahnung haben muss: Sie nutzen einfach die Technik und bauen eigene Produkte.
Auf diese Weise wird GPT-4 wahrscheinlich massive Auswirkungen auf Anwaltskanzleien haben, weil etwa die Ausfertigung oder Überprüfung von Verträgen noch sehr viel besser automatisiert werden kann, als es bisher schon mit bestehenden Produkten erkennbar ist. Das gilt natürlich auch für Grau- und Dunkelgraubereiche der Technologie, mit denen wir weit über Deepfakes hinaus in den kommenden Jahren Ärger haben dürften.
Schon im letzten Jahr hat eine KI in sechs Stunden 40.000 neue, als tödliche Chemie- oder Biowaffen verwendbare Moleküle entwickelt. Und die Fähigkeiten sind in den zweifelhaften Sphären ebenso relevant wie die Nichtfähigkeiten.
Ein weiterer, technisch offenbar nicht ganz so versierter Nutzer veröffentlicht etwa auf Twitter, wie seiner Meinung nach die Erfindung neuer Medikamente mit GPT-4 funktioniert – wird aber umgehend korrigiert , weil hier die Grenzen von GPT-4 sichtbar werden: Die vorgeschlagenen Moleküle scheinen nur sinnvoll konstruiert, sind aber in Wahrheit wohl dysfunktional und vor allem von der KI nicht verstanden worden.
Aber, das ist spätestens mit der Vorstellung von GPT-4 deutlich geworden, man muss in Zukunft bei jedem Fehler, jeder Halluzination, jedem Missverständnis und jeder Unzulänglichkeit der künstlichen Intelligenz das »noch« dazudenken: Das kann die KI noch nicht. Denn künstliche Intelligenz ist noch ganz am Anfang, und ihre wichtigste Eigenschaft ist dazuzulernen.
Der erstaunliche Graben zwischen Fachpublikum und Allgemeinheit
Der gesellschaftlich vielleicht interessanteste Aspekt von GPT-4 aber ist zumindest im Moment der große Unterschied zwischen dem KI-begeisterten Teil der Fachöffentlichkeit und dem allgemeinen Publikum. Die einen fühlen eine Aufbruchstimmung, wie sie seit Jahrzehnten nicht spürbar war – die anderen fühlen gar nichts, sondern überlegen, ob sie das neue Duschgel Pfirsich ausprobieren wollen.
Das erklärt sich einerseits aus der Häufigkeit, mit der die Techwelt in den letzten Jahren jede noch so kleine Weiterentwicklung zur Überrevolution der gesamten menschlichen Existenz hochgedampfplaudert hat. Da ist bei vielen vielleicht ein Winkelminütchen Hornhaut auf dem Sensationssensorium entstanden. Und gleichzeitig braucht man noch immer ein gewisses technisches Abstraktionsvermögen sowie auch einen gewissen Willen, um die diesmal wirklich und wahrhaftig vor sich gehende Revolution zu begreifen.
Die meisten weniger techinteressierten Menschen verstehen vermutlich noch nicht die Tragweite dieser Technologie. Und auch ein Teil der Techprofis gefällt sich in der so biederen wie stumpfen Rolle der superabgeklärten Ist-doch-alles-nichts-Neues-Sager. Aber wir wohnen in diesen Tagen, Wochen, Monaten dem Beginn einer gesellschaftlichen, technologischen, kulturellen Umwälzung bei, die mittelfristig weit größer wirken wird als etwa die Einführung des Smartphones.
Meine persönliche Einschätzung wäre, dass die Veränderungen durch künstliche Intelligenz so wirkmächtig werden wie einst die Industrialisierung. Weil das von manchen als steile These empfunden werden könnte, habe ich GPT-4 gefragt. Die Antwort: »Es ist schwierig, die genauen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz (KI) auf die Gesellschaft vorherzusagen, aber viele Experten sind der Meinung, dass die Veränderungen, die durch KI ausgelöst werden, genauso bedeutend sein könnten wie die durch die Industrialisierung.« Stimmt genau.