
Leben mit dem Coronavirus Angekommen in der inneren Endemie


Fitnessstudio: Wie sehr kann man sich Omikron wünschen, fucking selbst schuld, null Mitleid
Foto: Gaetan Bally / dpaEs fällt mir schwer, es zuzugeben: Draußen tobt die Pandemie heftiger als je zuvor, aber die Pandemie ist für mich vorbei. Ich bin in einer inneren Endemie angekommen. Die Endemie ist bekanntlich das wahrscheinlichste Abschlussszenario von Corona. Christian Drosten hat Anfang des Jahres davon gesprochen , dass wir »im Laufe des Jahres 2022 in die endemische Phase kommen und den pandemischen Zustand für beendet erklären können«.
Endemie ist eigentlich wissenschaftlich einigermaßen präzise definiert, nämlich mit der Formel: R0 x S = 1 . Aber das ist ja in dem Moment egal, wo die alltagstaugliche Übersetzung schlicht heißt: Wir müssen mit Corona leben, weil das verdammte Virus wohl nie wieder verschwinden wird.
Das ist nicht neu. Aber neu für mich ist eben der Zustand der inneren Endemie. Es ist, wenn ich schonungslos ehrlich sein soll, eine Mischung aus Egalheit, Rücksichtslosigkeit und Resignation. Das hört sich von außen vielleicht negativer an, als es sich von innen anfühlt. Tatsächlich handelt es sich um ein Gefühl der Befreiung. Mir ist vollkommen klar, dass die Voraussetzung für den Zustand der inneren Endemie große Privilegiertheit ist. Mein Sohn geht noch nicht in den Kindergarten, ich habe keine schulpflichtigen Kinder, mein Job lässt sich zu über 90 Prozent vom Homeoffice aus erledigen und verschafft mir finanzielle Unabhängigkeit, in meinem Umfeld sind praktisch keine stark gefährdeten Personen und so weiter. Aber inzwischen ist bei mir die ohnehin etwas schale Verzichtssolidarität – ich fahre nicht in den Urlaub, wenn nicht alle es können (oder so ähnlich) – aufgebraucht. Das mag man als egozentrisch oder boshaft empfinden, aber mir kommt es nicht mehr so vor, als würde ich der Gesellschaft pandemischen Verzicht schulden.
Es ist nicht so, dass ich so tue, als existiere Corona nicht. Aber ich verhalte mich minimalkonform, was die Regeln angeht. Mit der Tendenz zu einer gewissen Laxheit in der konkreten Umsetzung. Und mit der Bereitschaft, das private Umfeld von den meisten Regeln unberührt zu lassen, weil ich dort ausschließlich auf die Eigenverantwortung der Menschen um mich herum setze. Um es konkret zu machen: Sollten noch einmal Kontaktbeschränkungen erlassen werden, es wäre mir spektakulär egal, ich würde trotzdem zu Hause fünf Leute aus sechs Haushalten empfangen. Bis auf FFP2-Masken an sinnvollen Stellen habe ich fast alle Vorsicht fahren lassen. Den Unterschied erkenne ich insbesondere im Umgang mit Leuten, die noch immer Innenräume, Nähe oder Öffentlichkeit meiden.
Der vielleicht arroganteste Aspekt meiner inneren Endemie ist, dass mir inzwischen egal ist, ob und wie und wie viele Ansteckungen es gab. 234.250 ist nur noch eine Zahl, und das Spannendste an der Inzidenz ist für mich, welche neuen Farben auf der Landkarte verwendet werden, weil die alte Farbskala nur bis 1000 reichte. Mir sind Menschen nicht egal, aber nach zwei Jahren Pandemie heißt innere Endemie: Ich habe akzeptiert, dass sich früher oder später alle anstecken, wie die meisten Fachleute sagen. Deshalb umarme ich Leute, ich gebe die Hand, ich fliege in Urlaub, ich gehe in Cafés und Restaurants und auch ins Kino und – sofern sie denn stattfinden – zu Veranstaltungen und treffe mich mit vielen Freunden. Es ist nicht so, dass ich mit unmaskierten Fremden im Supermarkt Engtänze aufführe, aber social distancing is dead. Ich habe mich gefragt, warum das so ist, wie und warum ich also innere Endemie erreicht habe, samt eigener Minimalcoronaregeln. Drei Faktoren habe ich identifiziert.
Maske
Für viele Querdenker fühlt sich die Maske an wie eine Bedrohung, wahrscheinlich, weil sie das allgegenwärtige Symbol der Pandemie und auch der Gegenmaßnahmen ist. Für mich ist die Maske mein bester Schutz, weil sie richtig verwendet die Infektion zu 99 Prozent verhindert – aber sie ist auch ein Anzeiger. Wenn jemand keine Maske aufhat, wo sie notwendig wäre, ist mir komplett egal, ob die Person sich ansteckt. Wer nicht mal die Minimalmittel aufbringt, um sich nicht zu infizieren, hat es verdient. Anderntags habe ich ein Probetraining im Fitnessstudio absolviert, alle haben gekeucht, gejapst, geschwitzt, von rund fünfzig Leuten war ich der Einzige mit Maske, wie sehr kann man sich Omikron wünschen, fucking selbst schuld, null Mitleid.
Impfung
Mein Verständnis für Leute, die sich freiwillig noch immer nicht haben impfen lassen, ist inzwischen weitestgehend aufgebraucht. Das heißt nicht, dass ich diese Leute hasse, und ich würde nach wie vor dem Staat raten, sie zur Impfung zu überreden oder zu drängen, zum Beispiel mit einer Impfprämie. Aber meine innere Endemie besteht auch daraus, dass die allermeisten Menschen sich vor schweren Verläufen oder dem Tod hätten schützen können. Noch immer ist Corona nicht harmlos, aber mit allen Impfungen muss man wirklich Pech haben, um zu sterben. Mein Gefühl ist, dass wir Geimpften eigentlich mit unserem normalen Leben weitermachen könnten, aber dass die Gesellschaft wegen der Ungeimpften immer noch mit angezogener Handbremse unterwegs ist. Am bizarrsten finde ich dabei die Leute, die in Corona eine schlimme Krankheit sehen, aber sich trotzdem nicht impfen lassen. Da erscheint beinahe nachvollziehbarer, wenn man sich nicht impfen lässt, weil man Corona für ungefährlich hält oder für nicht existent.
Postpandemische Gesellschaft
Wir sind in der postpandemischen Gesellschaft angekommen, die Pandemie ist im Alltag eingepreist. Vielleicht anders, als man Anfang 2021 noch dachte, aber meine innere Endemie hat einen großen Schub bekommen, weil sich so viele Leute um fast jeden Preis versuchen normal zu verhalten. Wir spielen seit längerer Zeit offensiv Alltag, und inzwischen funktioniert die Autosuggestion so gut, dass der Alltag tatsächlich um Corona herumgeroutet wird. Peter kann nicht, der hat Omikron; ah ja, krass, sag mal, weißt du, wann die neue Staffel »Squid Game« kommt? Der Zauber der Normalität – das ist eine meiner Lehren aus Corona und der Schlüssel zur inneren Endemie – entsteht wie der Placeboeffekt: Der schlichte Glaube an die Existenz eines Alltags hat eine messbare, überraschend große Wirkung.
Interessanterweise kommt es mir immer öfter so vor, als würden gerade die erbitterten Gegner, die »Querdenker« und Impfgegner, die Außergewöhnlichkeit der pandemischen Situation am Köcheln halten. Vielleicht auch deshalb, weil die meisten von ihnen nach der Pandemie eben nur noch gewöhnliche Knalltüten sind, über die nicht mehr berichtet werden wird. Aber meiner Einschätzung nach hat die Mehrheit der Bevölkerung die postpandemische Gesellschaft erreicht. Nach meiner Beobachtung teilt sie sich vor allem in zwei größere Gruppen. Die eine hat für sich das Beste daraus gemacht, zählt hinter vorgehaltener Hand sogar die Vorteile auf. Zum Beispiel, dass inzwischen Homeoffice möglich sei, wo es vorher undenkbar war, und dass dadurch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einfacher geworden sei. Es ist keine besonders populäre Haltung, weil die Pandemie so großes Leid verursacht hat, deshalb hört man seltener davon. Aber die, die bei allen Schwierigkeiten ihren Nutzen aus der Pandemie zogen und gewissermaßen pandemienetto im Plus sind, sind viel, viel mehr Leute, als man auf den ersten Blick glauben würde.
Die andere große Gruppe sind die wirklich leidenden Menschen. Sie mussten durch die Pandemie oft merken, dass sie schon vorher in einer nur mit Mühe ertragbaren Situation waren. Corona hat bei ihnen das Lebensfass zum Überlaufen gebracht, aber kräftezehrend voll war es schon vorher. Corona hat vielen aus dieser Gruppe gezeigt, dass die Pandemie vor allem auch ein Auslöser dafür war, dass lange bestehende Probleme eskaliert sind. Ob sie für diese Probleme selbst etwas konnten oder nicht – sie haben notgedrungen unterdessen einen Umgang damit finden müssen.
Natürlich gibt es andere, kleinere Gruppen, wie etwa diejenigen, bei denen eigentlich alles in Ordnung war und die durch die Pandemie auf die eine oder andere, wirtschaftliche, organisatorische, psychische Art komplett aus der Bahn geworfen wurden. Oder diejenigen, die zwischen Pflege und Gesundheit beruflich ausgebrannt sind und dafür noch von Wirrköpfen angefeindet werden. Um diese Gruppen muss man sich dringend kümmern, vielleicht mit einem postpandemischen Aufbaufonds oder schlicht humaneren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Aber die beiden größten Gruppen haben erkennbar zu einer neuen Form von Alltag zurückgefunden. Ich bin mir recht sicher, dass wir inneren Endemiker uns den mühsam erkämpften Alltag nicht mehr aus den Händen nehmen lassen werden. Weder von Coronaleugnern noch von der Politik.