Sascha Lobo

Irgendwann reicht es Warum ich meine eigenen Coronaregeln mache

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Das staatliche Coronaregelwerk sieht er mittlerweile als unverständlich und unsinnig an. Aus reiner Notwehr richtet sich unser Kolumnist deshalb nach der Lex Lobo. Dabei ist das nicht ungefährlich, wie er selbst findet.
Maskenpflicht in Hamburg »zwischen und einschließlich den Hausnummern 135 beziehungsweise 146 und den Hausnummern 183 beziehungsweise 188«

Maskenpflicht in Hamburg »zwischen und einschließlich den Hausnummern 135 beziehungsweise 146 und den Hausnummern 183 beziehungsweise 188«

Foto: Marcus Brandt / dpa

Guten Tag, mir ist klar, dass es nicht unproblematisch ist – aber ich habe inzwischen meine eigenen Coronaregeln gemacht. Und zwar aus Notwehr. Die gerade amtlich gültigen Coronaregeln sind in den Hintergrund getreten, weil es fast unmöglich geworden ist, der Komplexität und dem aberwitzigen Umfang samt der ständigen Änderungen zu folgen. Und wirklich unmöglich, Konsistenz, Logik und Vernunft darin zu erkennen.

Stattdessen habe ich aus den medial vermittelten Erkenntnissen von Fachleuten, aus situativer Abwägung und auch nach Erträglichkeit eigene Coronaregeln entwickelt. Sie funktionieren für mich viel besser als die Regeln des Staates und des Landes Berlin, in dem ich lebe. Schon deshalb, weil ich sie nach einem Jahr Pandemie immer noch anwenden kann, ohne durchzudrehen. Das ist vielleicht ähnlich wie bei Diäten: Die beste ist oft die, die man durchhält, und nur selten die, die auf dem Papier am besten wirkt.

Meine Regeln haben damit zu tun, dass meiner Ansicht nach geimpfte Personen anders behandelt werden können als ungeimpfte. Und dass die Gefahr in Innenräumen lauert und kaum draußen. Oder dass es keinen besonders großen Unterschied macht, ob eine Person zu Besuch kommt oder ein Paar, das ohnehin zusammenlebt. Sie sind übrigens in vielen (aber nicht allen) Fällen härter als die offiziellen, aber darum geht es eigentlich nicht.

Denn obwohl ich meine Position vor mir und der Öffentlichkeit rechtfertigen kann, halte ich diese Entwicklung für nicht besonders gut. Sie erscheint mir nur weniger schlecht als das, was an offizieller, pandemischer Maßgabe gerade im Angebot ist. Ab und an tue ich im Alltag etwas, was entlang der aktuellen Forschungslage unproblematisch oder erzvernünftig, faktisch aber verboten ist. Meine These ist, dass die meisten Menschen sich selbst ein Coronaregelwerk geschaffen haben, und zwar wie ich aus Notwehr gegen die Unverständlichkeit, Unnachvollziehbarkeit und auch Unsinnigkeit des staatlichen Regelwerks. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass in Hamburg ernsthaft – ich denke mir das nicht aus!  – die Maskenpflicht unter anderem auf diese Weise gilt:

»Auf dem Alma-​Wartenberg-​Platz einschließlich der Bahrenfelder Straße im räumlichen Bereich zwischen und einschließlich den Hausnummern 135 beziehungsweise 146 und den Hausnummern 183 beziehungsweise 188, der Kleinen Rainstraße im räumlichen Bereich bis zu und einschließlich den Hausnummern 3 beziehungsweise 6, der Nöltingstraße im räumlichen Bereich bis zu und einschließlich den Hausnummern 5 beziehungsweise 12, der Friedensallee im räumlichen Bereich bis zu und einschließlich den Hausnummern 7 beziehungsweise 14 sowie der Bergiusstraße im räumlichen Bereich bis zu der Hausnummer 7, freitags, sonnabends sowie an Feiertagen und tags zuvor, jeweils von 18 Uhr bis 4 Uhr am Folgetag«.

Menschen sind nicht besonders gut darin, Regeln zu befolgen, deren Sinn sie nicht verstehen, und das ist in Zeiten einer hochansteckenden Pandemie gefährlich. In keiner Sekunde würde ich die Gefahr durch das Coronavirus kleinreden oder leugnen, meine eigenen Maßnahmen halte ich für meine Situation aber für effizienter, als vor Hausnummer 7 am Tag vor dem ersten Mai um Schlag 4 Uhr morgens die Maske abzunehmen.

Jetzt kommt die bundesweite Notbremse als Reaktion auf die föderale, ministerpräsidentielle Kleinstaaterei. Sie wirkt wie der Versuch, ein Feuer zu löschen, indem man die chemische Formel für Wasser vorliest: Kompliziert, kleinkariert, kontraproduktiv. Das von der Bundesregierung dazu veröffentlichte Schaubild  taugt international als Spottmagnet. Es handelt sich um eine Wenn-Dann-Matrix mit 62 Feldern für 10 Kategorien, 6 Teil-Unterkategorien und 4 Inzidenzbereichen sowie 11 verschiedenen Farben und Grauwerteverläufen. Darin stehen amtstorfige Sätze wie: »14 Tage nach Inzidenz unter 100: geöffnet Terminbuchung & Dokumentation (+Test bei mehreren Haushalten)«. Mit einem so komplexen Schaubild werden in anderen Ländern Raumfähren erklärt.

Dabei ist die Grafik nicht schlecht gemacht. Sie hat bloß die undankbare Aufgabe, ein überkompliziertes Maßnahmenpaket zu erklären, einen Kompromiss aus Merkels gewünschter Härte und der ministerpräsidentiellen Labberigkeit, der nicht best, sondern worst of both worlds ist. Weil sich die Bundesnotbremse zwar sehr hart anfühlt, aber nicht sehr wirksam ist. Was man auch daran erkennt, dass Fachleute schon jetzt weitergehende Maßnahmen fordern.

Denn die Essenz der Notbremse ist: Lockdown verschärfen, wenn die Inzidenz über 100 liegt und Lockdown lockern, wenn sie unter 100 liegt. Dann wieder verschärfen, lockern, verschärfen – es hört sich an wie die Garantie für ein ständiges Auf und Ab. Völlig abgesehen davon, dass zwar alle Welt betont, wie schnell und effektiv man jetzt handeln müsse, die Bundesnotbremse aber nur dazu da ist, die Länder zu zwingen, ihre eigenen, selbst gewählten Vereinbarungen vom 3. März einzuhalten. Das Parlament hat bereits signalisiert, keinesfalls sofort zu beschließen, die Bundesnotbremse ist zweifellos die langsamste Notbremse der Welt.

Komplettiert wird diese Absurdität durch die Ausnahmen: Ab Inzidenz 100 gibt es zwar Ausgangssperren und jede Menge Freiluft-Einschränkungen, aber bis 200 bleiben Schulen geöffnet und Büros werden gar nicht geschlossen. Obwohl wir längst wissen, dass Innenräume das Problem sind. Aerosolwissenschaftler erklären  gut begründet, dass 99,9% der Covid-Ansteckungen drinnen stattfinden. Mir ist unverständlich, wieso sich diese Datenlage kaum erkennbar in der Politik spiegelt. Solche Versäumnisse, die Überkompliziertheit und das politische Hin und Her sowie der unbegreifliche Flickenteppich von bundesländerlichen Coronaregeln sind Gründe dafür, dass mutmaßlich so viele Leute ihre eigenen Pandemieregeln erlassen haben (und sie auch befolgen). Leider hat die Entwicklung von privaten Regeln auf breiter Front, die Privatisierung der pandemischen Vernunft, mindestens drei ungünstige Folgen:

  • Zum Ersten sind selbst gesetzte Regelwerke anfällig für Selbstlügen aus Bequemlichkeit, auch hier kann man die Diätforschung als Anhaltspunkt begreifen. Das kann zur Gefahr werden.

  • Zum Zweiten folgen private Regeln vielleicht in vielen, aber natürlich nicht in allen Fällen einer einigermaßen gängigen Definition von Vernunft. Ich erahne sphärisch, dass Leute, die glauben, Kinder würden unter FFP2-Masken ersticken, ihre eigenen Coronaregeln eher nicht nach klassisch wissenschaftlichen Maßstäben festlegen.

  • Zum Dritten aber beschädigt die Abwesenheit von nachvollziehbaren, verständlich kommunizierten, konsistenten Coronaregeln das Vertrauen in Staat, Regierung und Politik.

Das sehe ich, wenn ich ehrlich bin, an mir selbst: Jede neue staatliche Regel betrachte ich inzwischen mit einem gewissen Argwohn – zumindest, bis sie von einer sachkundigen Person kommentiert und bewertet wurde. Ich habe mir eine Art persönlichen, heimlichen Corona-Bewertungsstab geschaffen, mit zwei Dutzend Personen und Institutionen von Mai Thi Nguyen-Kim bis Christian Drosten. So heimlich, dass die Mitglieder dieses Stabs gar nicht wissen, dass sie mit jeder ihrer Äußerungen mein tägliches Allstar-Corona-Briefing füttern.

Auch hier bin ich überzeugt, dass ich mit dieser Herangehensweise nicht allein bin – nur dass die meisten Leute unterschiedliche Sets an Vertrauenspersonen und -institutionen haben dürften. Was wiederum in den meisten Fällen natürlich völlig okay ist, in schlimmeren Fällen aber handelt es sich um ein auf Telegram zusammengecastetes Knalltütenkabinett.

Die wahre Gefahr der notgedrungenen Privatisierung der Vernunft resultiert daraus: Sie bringt neben den Fällen von toxischer Scheinvernunft die schleichende Ablehnung neuer Regeln selbst durch besonnene Leute hervor. Mit dem Höhepunkt nach einem kaum mehr erträglichen Jahr pandemischer Wirren. Irgendwann kann selbst die wohlmeinendste Person einfach nicht mehr. Manche drohen sogar, in einen Alles-egal-Zynismus zu stürzen. Dieser Punkt ist nah. Just in dem Moment, wo die Krankenhausmedizin warnt , dass wir in einer bis zwei Wochen volle Intensivstationen haben werden und in der Folge womöglich die Triage. Also die herbeigezwungene, ärztliche Entscheidung, wer leben darf und wer sterben muss. Es ist, auf die gesamte Bevölkerung bezogen, dadurch ungefähr der schlechteste Zeitpunkt für private Coronaregelwerke. Das ist mir bewusst – aber ich verlange logische, gut erklärte und nach Wirksamkeit aufgestellte Regeln vom Staat. Sonst bleibe ich bei meinen.

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