Sascha Lobo

Kunstausstellung Die Documenta-Leitung kann beim besten Willen keinen Judenhass entdecken

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Es hört einfach nicht auf mit dem Antisemitismus in Kassel. Bleibt nur eine Konsequenz: Macht die Ausstellung zu – sofort.
Vorhang zu: Ein Documenta-Mitarbeiter verhüllt im Juni das umstrittene Großbanner »People’s Justice« des Kollektivs Taring Padi

Vorhang zu: Ein Documenta-Mitarbeiter verhüllt im Juni das umstrittene Großbanner »People’s Justice« des Kollektivs Taring Padi

Foto: Swen Pförtner / dpa

Es war ein Geniestreich des verstorbenen Martin Kippenberger, als er 1984 das Bild malte mit dem Titel »Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken« . Das Werk müsste eigentlich bei der Antisemita fifteen, pardon: Documenta fifteen ausgestellt werden, als Leitmotiv im Umgang mit dem Antisemitismus auf der wichtigsten Kunstausstellung des Universums.

Moment, schon wieder Documenta, schon wieder Antisemitismus, schon wieder diese Debatte? Ja, leider, und leider ist es notwendig, denn es hört und hört und hört nicht auf.

Seit der ersten, großen Eskalation um das Banner der Gruppe Taring Padi mit mehreren judenfeindlichen Inhalten haben sich verschiedene Menschen und Institutionen die ausgestellten Werke angeschaut. Die Documenta ist sehr groß und sehr inhaltsmächtig, umfasst eine Vielzahl verschiedener Ausstellungsteile und Veranstaltungsbereiche, daher kann man dort nur schwer an einem Wochenende alles durchzappen. Auch deshalb ist nach und nach bekannt geworden (leider ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Weil man es – trotz jahrhundertelanger Forschung und wissenschaftlicher Aufarbeitung insbesondere auch durch Betroffene – nicht ausreichend oft sagen kann, hier noch mal die Kurzzusammenfassung, warum das alles antisemitisch ist, wenn auch zugegebenermaßen in verschiedener Intensität:

Die Gleichsetzung von Juden und/oder Israelis (»israelische Armee«) mit Nazis (»SS-Runen«) ist antisemitisch, weil so der Holocaust verharmlost und zugleich die Selbstverteidigung des jüdischen demokratischen Staates Israel delegitimiert wird.

Die Darstellung von Juden als Kindermörder ist eine mittelalterliche antisemitische Erzählung, die als emotionalisierte Begründung für eine Anzahl von Pogromen verwendet wurde. Sie wird auch heute noch (»Kindermörder Israel«) als antisemitische Parole gegen Israel verbreitet.

Der »Wanderjude« oder »ewige Jude«  basiert auf der Erzählung, ein Jude trüge die Schuld an Jesu Tod und sei deshalb zum ewigen Wandern verflucht worden. Geldbezüge sind oft antisemitisch, weil sie die Erzählung der »stets reichen, mächtigen, sich im Hintergrund verschwörenden Juden« transportieren. Ein sehr gefährliches Klischee, das auch außerhalb von so begründeten Pogromen nachweislich bereits Opfer gefordert hat, katastrophal mustergültig etwa bei einer Entführung eines jüdischen jungen Mannes in Paris 2006. Die Entführer, eine Jugendgang, hatten von der weitgehend mittellosen Familie 450.000 Euro Lösegeld gefordert, weil sie der Meinung waren, dass alle Juden reich seien oder zumindest an Geld herankommen könnten. Als die Angehörigen nicht zahlen konnten, interpretierten die Entführer das als bösen Willen und folterten das Opfer zu Tode.

Die BDS-Bewegung  ist unter anderem von Parlamenten oder Regierungen Österreichs, Tschechiens, Deutschlands sowie von mehr als dreißig US-Bundesstaaten als antisemitisch eingestuft worden (weil sie antisemitisch ist). Warum schließlich im jüdischen Kontext Haken- und Bogennasen-Darstellungen, wulstige Lippen und Schweineköpfe antisemitisch sind, muss ich wohl nicht begründen.

Die Documenta-Leitung hatte trotzdem bereits signalisiert, dass sie beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen konnte, und zwar nirgends. Vorläufig gipfelnd in der Feststellung, man könne in der antisemitischen Broschüre zwar irgendwie israelische Soldaten mit Davidsternen, aber »keine Bebilderung von Juden ›als solchen‹«  erkennen. Das haben die ernsthaft geschrieben. Spätestens damit war klar, dass die Documenta den deutschen Triple-A-Abgang aus ihrem selbst verschuldeten Antisemitismusdebakel gewählt hatte: Abstreiten, abwiegeln, aussitzen. Nur geht es halt immer weiter.

Schon ist die Wendung »erneut antisemitisches Werk auf der Documenta gefunden« zu einem modernen Einzelfallklassiker geworden und damit zu einer zeitlosen Medienüberschrift wie »Ifo-Index überraschend gefallen« oder »Jetzt wird es eng für Trump«. Jetzt, Ende August 2022, entblättert sich ein bisher zu wenig beachteter Vorfall, der schon nach dem ersten, größeren Bekanntwerden in der »Süddeutschen Zeitung«  mehr Aufmerksamkeit verdient hätte: »Tokyo Reels«. Dieser in seiner menschenverachtenden Brisanz vielleicht bisher unübertroffenen Fall ist durch den Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Jakob Baier  minutiös analysiert worden, worüber er einen sehr lesenswerten Artikel in der »taz«  schrieb.

Baier hat sich nämlich die Mühe gemacht, die umfangreiche, mehrstündige Videoinstallation »Tokyo Reels« anzuschauen. Sie besteht aus einer Reihe palästinensischer Propagandafilme der Siebziger- und Achtzigerjahre, zu sehen auf einer fast kinogroßen Leinwand. Zusammengestellt wurde die Schau von einem japanisch-palästinensischen Künstlerkollektiv, und hier lauert im Hintergrund die erste Monstrosität. Denn das Kunstprojekt wurde laut Baier »mitinitiiert von Masao Adachi, einem ehemaligen Mitglied der Japanischen Roten Armee Fraktion«. Diese japanische Terrorgruppe hatte Ende Mai 1972 auf dem Flughafen in Tel Aviv abgesägte Sturmgewehre in Geigenkoffern verborgen und so plötzlich wahllos das Feuer auf zufällig anwesende Reisende eröffnet. 26 unschuldige Menschen wurden ermordet , und zwar im Auftrag der palästinensischen Terrorgruppe PFLP. Ein Mitglied dieser Gruppierung verantwortet mit »Tokyo Reels« nun ein Kunstwerk auf der Documenta mit, in dem offenbar in verschiedenen Filmen

  • die Gründung des jüdischen Staates als »zionistische Verschwörung« bezeichnet wird,

  • behauptet wird, israelische Soldaten hätten Leichen auf einem christlichen Friedhof geschändet,

  • behauptet wird, Israel präpariere Spielzeug mit Bomben, um Kinder zu töten,

  • palästinensische Kinder für den Kampf gegen Israel trainiert werden und der »heldenhafte Märtyrertod« von Kindern in mehreren Videos auf mehrere Arten verherrlicht wird.

Und so weiter und so fort. Natürlich könnte man solche Filme, führt Jakob Baier aus, mit Fug und Recht zeigen, wenn man sie einordnete. Tatsächlich geschieht fast das exakte Gegenteil. Denn es gibt kommentierende Stimmen aus dem Off zwischen den Filmen. Die aber schwärmen laut Baier regelrecht von der antisemitischen Terrorpropaganda. Die Stimmen der beiden Sprecher erklären, welche Clips ihre Lieblingsfilme seien, sie loben einen Film, der den Märtyrertod kleiner Kinder feiert, als »sehr literarisch« und deuten so erschütternd wie absurd die geopferten Kinder zu »Freiheitskämpfern« um. Uff. Uff. Superuff. Das ist israelbezogener Antisemitismus allerreinsten Wassers und kindermissbrauchend obendrein.

Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass diese zutiefst antisemitische Kunst vom deutschen Staat mitfinanziert wird. So viele Verbände, Institutionen, Medien, Forschende, Privatpersonen hatten schon lange vorher in Sachen Documenta gesagt: Wer BDS-Sympathisanten einlädt, erntet Antisemitismus. Aber von Claudia Roth über das Documenta-Management bis zur Stadt Kassel hatte niemand ernsthaft eingreifen wollen. Und jetzt: BDS-Künstler machen antisemitische Kunst. Megaüberraschung.

Persönlich glaube ich, dass es nicht überragend wichtig ist, ob irgendein wütender Künstler den Bundeskanzler aus Marketinggründen unflätig beschimpft. Aber wenn das erste Täterland des Holocaust derart gleißenden Antisemitismus fördert, verbreitet und durch Untätigkeit seine Aufarbeitung verhindert, dann muss man Alarm schlagen – und Konsequenzen folgen lassen. Und nach dem soundsowievielten Fall von eindeutigem Antisemitismus sowie der Weigerung der Leitung, die Kunstschau genauer zu untersuchen, kann es nur noch eine sinnhafte Konsequenz geben: Macht die Documenta fifteen, die wohl antisemitischste Kunstschau auf deutschem Boden seit 1945, zu – sofort.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es im Artikel, Jakob Baier habe zuerst über die antisemitischen »Tokyo Reels« geschrieben. Tatsächlich hat unter anderem die »Süddeutsche Zeitung« bereits im Juni darüber berichtet. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren