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Marcel Rosenbach

Neue Internetpläne der Bundesregierung Das Dilemma mit der Digitalisierung

Marcel Rosenbach
Ein Netzwelt-Newsletter von Marcel Rosenbach
Die Bundesregierung hat ihre Digitalstrategie beschlossen und wollte dem Thema eigentlich bei der Kabinettsklausur eine große Bühne bieten. Wieder einmal kam es anders – und das verheißt nichts Gutes.

Liebe Leserin, lieber Leser,

mal ehrlich, was haben Sie von der Kabinettsklausur in Meseberg mitbekommen? Krisenstimmung in der Ampel, Energiedebatte, neues Entlastungspaket? Das war anders geplant. Am Sommeranfang hatte das Ministerium von Volker Wissing die Verabschiedung der neuen Digitalstrategie auch mit der Begründung verschoben, dass Meseberg dafür den idealen Rahmen biete. Das Thema werde dann prominent wahrgenommen, die Regierung wolle schließlich gemeinsam ein Aufbruchssignal senden. Nun ja, heute war es so weit, und es kam anders.

Bundeskanzler Olaf Scholz sprach auf der Abschluss-Pressekonferenz heute zuerst über die drängenden Themen dieser Tage, dann sprach er tatsächlich über Netze – meinte allerdings die für Gas, Strom und Wasserstoff. »Zuletzt«, so Scholz, habe man sich in Meseberg auch mit dem »wichtigen« Thema der Digitalisierung beschäftigt. Damit beendete er sein Statement.

Nach rund einem Jahr Regierungszeit rangiert das Thema offenbar schon wieder an seinem angestammten Platz im Berliner Politgeschehen, irgendwo unter ferner liefen. Es ist das Dilemma des Digitalen in der Politik: Immer gibt es weitaus Wichtigeres.

Das zeigt auch die Entstehungsgeschichte der 52 Seiten, auf denen die Ampel ihre Vorstellungen von der digitalen Zukunft des Landes nun zusammengefasst hat. Ursprünglich sollte die Digitalstrategie schon vor Monaten fertig sein, aber die Zulieferungen aus den Ministerien waren teils so mau, dass Wissing sich öffentlich darüber beschwerte – vieles sei ihm noch zu unambitioniert. Er ließ die Kolleginnen und Kollegen über den Sommer nacharbeiten. Die finale Strategie  umfasst nun 22 Seiten mehr als der Arbeitsentwurf aus dem Juli, und einige konkrete weitere Vorhaben. Deutschland brauche einen »umfassenden digitalen Aufbruch« heißt es gleich zu Beginn. (Lesen Sie hier unsere Analyse der Pläne in der Digitalstrategie und des politischen Streits zwischen den Ministerien.)

Die Aufbruchsstimmung nicht genutzt

Leider verströmen weder das Papier noch die Ampel und schon gar nicht der Auftritt des Bundeskanzlers heute den Eindruck, dass dies gelingen könnte. Das spürbare digitale Momentum, das die Coronakrise ausgelöst hatte, scheint weitgehend verpufft, die kurze Begeisterung rund um den Hackathon, die vergleichsweise breite Akzeptanz der Corona-Warn-App, wer erinnert sich? Noch im Wahlkampf thematisierten praktisch alle Parteien die Digitalisierung prominent wie nie, ausgiebig wurden Für und Wider eines Digitalministeriums diskutiert.

Nach nicht einmal einem Jahr im Amt scheint aller Elan verflogen. Dass das Bundeskanzleramt sich praktisch aller Digitalaufgaben, die es erst in der letzten Legislatur an sich gezogen hatte, schnell wieder entledigte, war kein gutes Signal. Wissing führt ein Digitalministerium, das nur so heißt, aber das Thema weiter mit vielen anderen Häusern teilt. Über den genauen Zuschnitt der Zuständigkeiten wurde bis in die letzten Wochen hinein gefeilscht.

Lindner spricht vom »Schlüsselprojekt« staatlicher digitaler Identität

Auf die Frage, warum das digitalpolitische Erbe der Merkel-Ära so miserabel ausfiel, führte ihr Umfeld oft die Widrigkeiten ihrer Amtszeit an: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, es habe einfach immer wichtigeres gegeben. Angesichts der Weltlage würden auch Scholz und seine Ampelregierung 2025 sicher eine Menge Ausreden finden, sollten sie am Ende der Legislaturperiode mit ähnlich dürftigen Digitalbilanzen wie ihre Vorgänger dastehen. Das aber kann sich das Land nicht leisten, immer mehr Bürgerinnen und Bürger und auch viele Unternehmen verlieren nach zwei Jahrzehnten voller gebrochener Digitalversprechen die Geduld – völlig zu Recht.

Womöglich hatte auch Finanzminister Lindner heute den Eindruck, da sei etwas zu kurz gekommen. Man vergesse trotz der aktuellen Krisen auch die Zukunftsgestaltung nicht, sagte er in der gemeinsamen Pressekonferenz nach dem Kanzler, mit Verweis auf Bildung und das Digitale. Als »Schlüsselprojekt« erwähnte er eine staatliche digitale Identität. Bei vergleichbaren Projekten des Bundes gab es in der Vergangenheit erhebliche Probleme – ob es diesmal besser läuft, muss sich erst zeigen.

Unser Digitalversprechen als Netzwelt: Wir werden auch die weitere Karriere der Strategie und ihrer Umsetzung verfolgen.

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Ich wünsche Ihnen eine gute und abwechslungsreiche Woche!

Marcel Rosenbach

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