Überwachungs-Debatte Wir geben unsere Daten viel zu billig her

Daten dürfen keine Ware sein, fordert der Theoretiker Evgeny Morozov. Weil wir Konzernen freiwillig Persönliches übergeben, um Gegenleistungen zu bekommen, sei es "Heuchelei", sich jetzt über die NSA-Überwachung aufzuregen. Er irrt: Wir müssen die Herrschaft über unsere Daten zurückgewinnen.

Hamburg - Der aus Weißrussland stammende Theoretiker Evgeny Morozov ist derzeit in einer komfortablen Position. Seit Jahren warnt Morozov vor der Heilsideologie aus dem Silicon Valley, widerspricht in Büchern und Essays all jenen, die behaupten, digitale Technologie werde die Welt fast von allein besser machen. Die infamen Überwachungsprogramme der amerikanischen NSA und ihrer Verbündeten sind Wasser auf Morozovs Mühlen: "Ein so hehres Ziel wie 'Internetfreiheit' können wir vergessen - es ist eine Illusion, der hinterherzulaufen sich nicht lohnt", schrieb Morozov nun in einem Essay  in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Morozov tritt in dem Text, in dem viel Richtiges steht, einer "Ideologie" entgegen, die er "information consumerism" nennt, was in der "FAZ" etwas unglücklich mit "Datenkonsum" übersetzt wird. Morozovs zentrale These ist diese: "Solange wir nicht plausibel begründen, dass Daten keine Ware sind, brauchen wir uns gar nicht erst darum zu bemühen, sie vor der NSA zu schützen."

Intelligente Gabeln, schlaue Regenschirme?

So recht Morozov in vielen Punkten hat, so fundamental irrt er hier. Er reiht sich damit ein in die Reihe jener, die uns dummen Digitalkonsumenten eine Mitschuld an dem zuweisen, was derzeit enthüllt wird. Weil wir doch freiwillig und in dem Bewusstsein, dass im Netz ohnehin alles von jedem gesehen werden kann, in den Handel Daten gegen Service eingetreten sind. Jetzt dürfen wir uns nach dieser Logik nicht über die Überwachung durch Geheimdienste beschweren. Noch stärker verkürzt: Wer einen Facebook-Account, ein Smartphone, womöglich gar ein Sport-Armband zur Erfassung der eigenen Bewegungen nutzt, hat sein Recht auf Privatsphäre ohnehin verwirkt.

Morozov warnt voller Inbrunst vor einer Welt, wie sie gerade die von ihm stets so massiv kritisierten Heilsprediger des Silicon Valley entworfen haben: Eine Welt, in der intelligente Gabeln unser Essverhalten erfassen, intelligente Schuhe unsere Bewegungsbereitschaft messen und intelligente Regenschirme uns vor schlechtem Wetter warnen. Wir würden diese Produkte billiger oder ganz kostenlos bekommen und dafür mit unseren persönlichen Daten bezahlen. So wie wir schon jetzt unsere kostenlosen E-Mail-Accounts mit der Erlaubnis refinanzieren, den Inhalt unserer Korrespondenz zu Werbezwecken zu scannen.

Kauft die NSA die Daten künftig am freien Markt?

Wir würden der NSA damit künftig sogar die Arbeit ersparen, uns aufwendig selbst zu überwachen: "Was heute per richterlicher Anordnung abgeschöpft wird, könnte man sich also ganz allein durch kommerzielle Transaktionen beschaffen."

Genau das wird nie der Fall sein. Jene Terroristen und Spione, für die sich der Geheimdienst interessiert, werden ihr Verhalten und ihre Aufenthaltsorte sicher nicht mit intelligenten Gabeln und Regenschirmen erfassen. Und ob der große Rest von uns tatsächlich bei der Selbstvermessung mitmachen wird, ist bislang völlig offen.

Ein zweiter Irrtum ist nicht minder grundlegend: Die Antwort auf diese - potentielle! - Entwicklung kann nicht sein, Information künftig den Status als Ware prinzipiell abzusprechen. Denn auf diesem Status basieren weite Teile unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Und das gilt nicht nur für Börsen und Finanzwelt, wo Erlöse maßgeblich darauf basieren, dass der eine zu einem bestimmten Zeitpunkt eben mehr weiß als der andere. Ein aktuelles Beispiel: Das Institut für Sozialforschung der University of Michigan verkauft  die Ergebnisse einer Studie über die Stimmung von Verbrauchern in Abhängigkeit vom Zeitpunkt für einen unterschiedlichen Preis - wer genug zahlt, bekommt sie zwei Sekunden vor allen anderen, wer etwas weniger zahlt, fünf Minuten vor Veröffentlichung der Pressemitteilung.

Daten waren schon immer eine Ware

Das Geschäftsmodell von Versicherungen fußt praktisch vollständig auf dem, was heute "Big Data" genannt wird: Die Unternehmen versuchen auf Basis vorangegangener Ereignisse vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Ereignisse (Feuer, Krankheit, Autounfälle) eintreten und welche Kosten dabei entstehen werden. Dann sammeln sie von ihren Kunden genug Geld ein, dass auch auf Basis dieser Wahrscheinlichkeit-mal-Kosten-Rechnung ein Gewinn übrigbleibt.

Wer heute eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen möchte, kann das ab einem gewissen Alter nicht, ohne sich vorher einer Gesundheitsprüfung zu unterziehen. Er gibt sehr persönliche Daten über sich preis, weil sonst der Handel mit der Versicherung nicht zustande kommt. Gleichzeitig aber muss er sich eben darauf verlassen können, dass diese persönlichen Daten von der Versicherung nicht weiterveräußert oder gar veröffentlicht werden.

Mit anderen Worten: Wir behandeln persönliche Daten schon lange als Handelsware. Doch wir müssen selbst entscheiden dürfen, welche der Daten, die wir produzieren, zur Ware werden, wer sie bekommen darf und wer nicht. Und es muss sichergestellt sein, dass auch der am Leben teilnehmen kann, der sich verweigert - eine Krankenversicherung darf, ja muss in Deutschland jeder abschließen, auch ohne Gesundheitsprüfung.

Google, Facebook und Co. ziehen uns seit Jahren über den Tisch

Derzeit, davon ist auszugehen, geben wir unsere Daten viel zu billig her. Facebook, Google und Co. ziehen uns seit Jahren über den Tisch, weil erst nach und nach klar wird, wie wertvoll das, was wir da täglich produzieren, für die Unternehmen tatsächlich ist. Wir haben uns austricksen lassen. Ein Bewusstseinswandel muss her - da hat Morozov recht.

Wir geben unsere Daten aber auch deshalb viel zu billig her, weil wir nicht organisiert sind. Wir brauchen eine Vertretung. Eine Gewerkschaft der Datenproduzenten gewissermaßen. Schon deshalb, weil viele der Datenspuren, die wir hinterlassen, zwar gar nicht personalisiert, aber trotzdem wertvoll sind. Telekommunikationskonzerne beispielsweise haben bereits begonnen, die Positionsdaten zu aggregieren und zu verkaufen, die die Handys ihrer Nutzer erzeugen. Vorhersagen, die darauf basieren "was Zielgruppen tatsächlich tun, wohin sie tatsächlich gehen und was sie tatsächlich mögen", verspricht etwa der US-Konzern Verizon . Von den Gewinnen, die damit erwirtschaftet werden, sehen diejenigen, die sie produzieren, nichts. Wir werden nicht einmal gefragt, ob diese Informationen nicht doch lieber fürs Allgemeingut genutzt werden sollten - etwa zur Stauvorhersage.

Eigentlich wäre es die Aufgabe unserer demokratisch gewählten Regierungen, uns im Zeitalter der Datenökonomie auch in dieser Frage gegenüber Konzernen zu vertreten. Sie haben dabei bislang auf ganzer Linie versagt. Mehr noch: Sie haben zugelassen, dass Geheimdienste unsere Daten stehlen - und zwar eben auch jene, die wir nicht in einem Tauschgeschäft freiwillig herausgegeben haben.

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