Facebooks Wertekanon Kiffen ja, Nippel nein

Facebook-Seite für Joint-Freunde: Kiffen ist okay, blanke Brüste nicht
Hamburg - Bei Facebook darf man schreiben: "Ich habe einen großen Penis und mag es, wenn Mädchen ihn anfassen." Verboten dagegen ist: "Ich suche nach Mädchen, die Spaß haben wollen. Schickt mir eine Nachricht, wenn ihr eine gute Zeit haben wollt."
Warum? Im zweiten Beispiel wird - wenn auch eher implizit - zu erotischen Verabredungen aufgefordert, und das fällt unter den Facebook-Straftatbestand "sexual solicitation". Einen großen Penis zu haben aber "ist keine sexuelle Aktivität", und die Sache mit dem Anfassen enthält "keine Details" und erfüllt deshalb nicht die Kriterien für "sexuell explizite Sprache". So legen das zumindest die bislang geheimen Regularien fest, nach denen Facebook die Inhalte seiner Nutzer beurteilt, wenn Beschwerden eingehen - und sie dann unter Umständen löscht.
Ein Skandal sind die nun in die Öffentlichkeit gelangten Richtlinien nicht - aber sie sagen viel über Facebooks Wertekanon aus: Sex nein, zerquetschte Köpfe ja, Tierquälerei nein, außer wenn es um unser Essen geht. Drogen eigentlich nein, aber Kiffen ja. Facebooks Welt ist politisch korrekte amerikanische College-Kultur plus US-Recht plus ein paar Sonderregeln für Deutsche und Türken.
Ans Licht gekommen ist Facebooks Knigge dank eines unzufriedenen Mitarbeiters: Amine Derkaoui, ein 21 Jahre alter Marokkaner. Er vertraute sich dem US-Blog Gawker an und erlaubte so erstmals tiefe Einblicke in Facebooks Wertewelt.
Die erste Verteidigungslinie gegen den Schmutz und die Scheußlichkeiten, die Menschen rund um den Globus ständig ins Netz stellen, sind Facebooks Nutzer: Sie können Anstößiges mit einem Klick melden. Die zweite Verteidigungslinie sind Menschen wie Amine Derkaoui - er arbeitete eine Weile für das kalifornische Unternehmen oDesk, einen Social-Media-Dienstleister. Erst die dritte Verteidigungslinie steht bei Facebook selbst.
Sonderregeln für Deutschland und die Türkei
Auf Facebooks Servern landen minütlich Gigabyte von neuen Inhalten. Algorithmen aber, die so feine Unterscheidungen wie die oben genannten treffen könnten, gibt es noch nicht. Also muss das, was Facebook-Nutzer mit einem Klick auf den "Melden"-Button als anstößig markieren, von einem Menschen geprüft werden, zumindest stichprobenweise. Von Menschen wie Amine Derkaoui. Einen Dollar pro Stunde habe er von oDesk bekommen, um durch den Schmutz der digitalen Welt zu waten, sagte der Marrokaner dem US-Blog Gawker und sprach von "Ausbeutung". Für gute Arbeit gibt es Gawker zufolge Boni, die sich auf bis zu vier Dollar die Stunde summieren können. Der US-Mindestlohn liegt bei 7,25 Dollar, aber oDesk-Mitarbeiter müssen nicht in den USA arbeiten. Nur sehr gut Englisch können.
Facebook teilte auf Anfrage mit, die Subunternehmer, die auf Nutzer-Meldungen reagierten, unterlägen "rigorosen Qualitätskontrollen". Es gebe ein "mehrschichtiges" System von Sicherungsmaßnahmen, um die Daten der Nutzer zu schützen. Die Entscheidungen der externen Kontrolleure unterlägen "ausgiebigen Überprüfungen". Das nun veröffentlichte Dokument sei nur "ein Schnappschuss", die aktuellsten Regelungen könne man auf der "Community Standards"-Seite nachlesen - dort allerdings sind all die saftigen Details nicht ausgeführt, die das nun veröffentlichte Manual preisgibt.
Beispielsweise ist dem von Gawker veröffentlichten oDesk-Manual zu entnehmen, dass auf deutsche und türkische Belange bei Facebook besonders geachtet wird: "Holocaust-Leugnung, die sich auf 'hate speech' konzentriert" und "alle Attacken auf Atatürk (visuell und textlich)" müssen entfernt werden, ebenso wie Inhalte, die offenbar der Unterstützung der kurdischen Terrororganisation PKK oder deren inhaftierten Anführers Öcalan gelten. Derartige Inhalte sollen "eskaliert" werden, was bedeutet, dass der externe Dienstleister den Fall an Facebooks interne Instanzen weiterreicht. Ähnliches gilt für Fälle, in denen möglicherweise Verbrechen geplant, angekündigt oder dokumentiert werden, natürlich für Kinderpornografie und auch für Selbstverletzungen, Essstörungen oder Suiziddrohungen sowie glaubwürdige Morddrohungen gegen Politiker und Prominente.
Bei Gehirn oder Gedärm hört der Spaß auf
Unklar ist, ob Dienstleister für andere Weltregionen noch andere Auflagen berücksichtigen müssen - etwa für die arabische Welt.
Besonders interessant werden die oDesk-Regeln überall dort, wo sich europäisches Empfinden deutlich von US-amerikanischem unterscheidet. So reagiert man in den USA auf Sex empfindlich, auf Gewalt dagegen in der Regel kaltblütig. Entsprechend lesen sich Facebooks Richtlinien: "Tiefe Fleischwunden sind in Ordnung", genauso wie "extremes Bluten", "zerquetschte Köpfe, Gliedmaßen etc.", allerdings nur sofern man "den Inhalt" der zerquetschten Körperteile nicht sehen kann. Bei sichtbarem Gehirn oder Gedärm hört bei Facebook der Spaß auf.
Verboten sind auch Bilder, auf denen sich die Geschlechtsteile einer Frau durch die Kleidung deutlich abzeichnen ("camel toe"), und solche von "Leuten, die gerade auf die Toilette gehen". Darstellungen von Sex sowieso, ob bekleidet oder unbekleidet. "Hass-Symbole" wie Hakenkreuze, Bilder von Hitler oder "drastische Gewaltdarstellungen" können dagegen im Einzelfall akzeptiert werden - wenn "der Nutzer durch die Bildunterschrift oder den Text auf dem Bild klarmacht, dass es sich nicht um eine Regelverletzung handelt". Mit Photoshop bearbeitete Bilder sind seit neuestem nicht generell zu löschen, sondern nur noch dann, wenn "sie den Dargestellten in ein schlechtes Licht rücken".
Gewalt gegen Tiere ist ok, wenn sie gegessen werden
Interessant ist auch der Umgang mit Gewalt und Grausamkeit gegen Tiere. Bilder von Tierquälerei beispielsweise sind zu löschen, außer "im Kontext von Nahrungsverarbeitung oder der Jagd, wie sie in der Natur vorkommt". Bilder von Wilderei, bei der bedrohte Arten gejagt werden, müssen dagegen "eskaliert" werden. Die Regel über Bilder von im Zuge der Nahrungsbeschaffung getöteten Tieren passt zu Mark Zuckerbergs privater Haltung: Der Facebook-Gründer isst eigenem Bekunden zufolge nur Tiere, die er selbst getötet hat.
Ein Zugeständnis an die Hobbys der Nutzer dürfte eine Ausnahmeregel im Bereich Drogenkonsum sein: Während Darstellungen des Konsums illegaler Drogen gelöscht werden, ist "jede Darstellung von Marihuana allein (beliebige Menge) oder von Rauchwerkzeugen okay". Der Freibrief gilt auch für "Marihuana-Derivate wie Hasch, Haschöl, etc.".
Facebooks Kontrollen haben schon verschiedentlich für Kritik gesorgt. Stillende Mütter fühlen sich diskriminiert, weil Fotos, auf denen neben Babys auch Brüste zu sehen sind, regelmäßig gelöscht werden. Einmal entschuldigte sich Facebook offiziell, weil ein Mitarbeiter ein Bild zweier küssender Männer gelöscht hatte - es handelte sich um ein Bild aus der sehr harmlosen britischen TV-Serie "Eastenders".
Ungefähr 200 bis 250 Millionen Bilder pro Tag werden bei Facebook hochgeladen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass es nur wenige - meist harmlose - Fälle gibt, die für öffentliche Aufregung sorgen. Tatsächlich gelingt Facebook, YouTube und anderen großen Social-Media-Sites recht gut, was sich viele deutsche Politiker wünschen: Sie schaffen ein weitgehend sauberes, überwiegend jugendfreies Internet, zumindest innerhalb ihrer Zäune. Allerdings ist die Sauberkeit eine besondere, gelenkte. Facebook setzt im eigenen Haus eigene Werte durch.