Sascha Lobo

Die Tat von Frankfurt und die sozialen Medien Wenn Empörung zur Lust wird

Nach der Tat am Frankfurter Hauptbahnhof teilt sich das Publikum in den sozialen Medien in zwei Lager: die Hilflosen und die Radikalen. Beide profitieren von der Empörung der anderen Seite.
Frankfurter Hauptbahnhof: Die Fassungslosigkeit über die Tat verwandelt sich bei manchen in Wut auf den Täter

Frankfurter Hauptbahnhof: Die Fassungslosigkeit über die Tat verwandelt sich bei manchen in Wut auf den Täter

Foto: Frank Rumpenhorst / DPA

Boris Johnson ist soeben mit einem bestimmten Prinzip britischer Premier geworden, und dieses Prinzip ist auch der wichtigste Bestandteil des Erfolgs von Donald Trump. Es heißt: Gegenruhm durch Empörungslust. Dahinter verbirgt sich beim näheren Hinsehen aber auch eine Erklärung für die Eskalationen nach dem monströsen Tötungsdelikt am Frankfurter Hauptbahnhof. Das Prinzip braucht nur ein diskursfreudiges Publikum, um zu funktionieren, aber die sozialen Medien haben es auf eine völlig neue Ebene gehievt.

Gegenruhm durch Empörungslust ist gleichzeitig das PR-Konzept der AfD und das Bindeglied zwischen Identität und Öffentlichkeit, es ist aber auch konstitutives Element der sozialen Medien, wie wir sie heute kennen, mit dem sich die Erfolge der Rechten erklären lassen. Gegenruhm durch Empörungslust bedeutet, soziale Anerkennung nicht durch Lobpreisung der eigenen Anhänger zu bekommen, sondern durch wütenden Widerspruch der Gegner. Früher hätte der Volksmund gesagt: "Viel Feind, viel Ehr" oder "Ein gemeinsamer Gegner verbindet."

Heute ist das Prinzip Gegenruhm durch Empörungslust viel umfassender - mit einer tosenden Öffentlichkeit, die sich zwischen redaktionellen und sozialen Medien im ständigen Eskalationsmodus befindet.

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Manche äußern sich unabhängig von der Faktenlage

Eine in der Zeitschrift "Public Opinion" veröffentlichte Studie  von 2014 zeigte, dass die Zustimmung zu der rassistischen These namens "Birtherism", Barack Obama sei in Kenia geboren, stark von der Formulierung der Frage abhing. Dabei unterschieden sich die Fragen darin, ob es nur um schlichte Fakten ging - oder um eine Gelegenheit, seine politische Haltung zu illustrieren.

Es gibt offenbar viele Leute, die ihre Äußerungen unabhängig von der Faktenlage vor allem danach auswählen, ob sie bei politischen Gegnern für Aufregung sorgen . Die Empörung der Gegnerschaft als soziales Bindemittel einer Gemeinschaft, so entstehen vor allem rechte Identitäten unter denjenigen, die sich bis vor kurzer Zeit kaum um ihre "Identität" Gedanken machen mussten , weil sie dem Normfall der sie umgebenden Gesellschaft entsprachen.

In der deutschen Öffentlichkeit ist Hans-Georg Maaßen derzeit der eifrigste Anwender der Strategie des Gegenruhms durch Empörungslust, was klar auf einen politischen Karrierewunsch der Sorte Boris Johnson hindeutet. Seine Wortmeldungen haben erkennbar drei Ziele:

  • seine Bekanntheit durch heftigen Widerspruch der politischen Gegner zu erhöhen,
  • seine öffentliche Relevanz zu beweisen, indem bekannte Persönlichkeiten sich gezwungen sehen, auf ihn zu reagieren,
  • diejenigen hinter sich zu scharen, die Befriedigung durch die Empörung ihrer Gegner empfinden.

Diese Strategie ist recht offensichtlich geworden und wird von vielen, besonders rechten und rechtsextremen, Figuren in der Öffentlichkeit gezielt genutzt. Das Prinzip wird aber oft auch unbewusst oder unabsichtlich angewendet. Wahrscheinlich, weil es tief oder sogar untrennbar eingewoben ist in die Struktur heutiger sozialer Medien: Gegenempörung zur Identitätsbildung.

Das Publikum teilt sich schlagartig in zwei Lager

In einer Art Selbsttest können das alle herausfinden, die regelmäßig in sozialen Medien unterwegs sind. Man stelle sich die Frage: Auf welche Weise habe ich zuletzt von der größten, politischen Empörung in sozialen Medien erfahren?

In den meisten Fällen dürfte die Antwort lauten: durch die Gegenwehr einer Person, die den eigenen Überzeugungen nahesteht. Genau auf diese Weise habe ich von den rechten Wut- und Hasstiraden nach der Tat in Frankfurt erfahren, nicht direkt, sondern über Screenshots, Distanzierungen, empörte Gegenreaktionen. Der Fall der grausigen Tötung eines achtjährigen Jungen mutmaßlich durch einen Eritreer ist ein Beispiel für die destruktive Wirkung des Mechanismus der Empörungslust, durch die Gegenruhm erst entstehen kann.

Die Nachricht erreicht die Öffentlichkeit und ist nichts weniger als eine Horrorvorstellung. Die ersten Reflexe sind Fassungslosigkeit und tiefe Traurigkeit, darin sind die weitaus meisten Menschen noch vereint. Diese Fassungslosigkeit verwandelt sich bei einem Teil des Publikums in Wut auf den Täter, eine legitime und normale Reaktion. Dann aber, mit der Information, dass offenbar ein schwarzer Mann das Kind getötet hat, teilt sich das Publikum schlagartig in zwei Lager.

Die Hilflosen haben eine Art Ekelfaszination entwickelt

Die einen, nennen wir sie "Hilflose", verharren zunächst in ihrer Trauer und der Bestürzung und fühlen sich gelähmt. Die anderen, nennen wir sie "Radikale", verbinden ihre Trauer um das Kind und die Wut auf den Täter mit rassistischen Ressentiments, indem sie ohne nähere Kenntnis der Sachlage von "schwarzer Eritreer" auf "Flüchtling" und dann auf "alle Flüchtlinge" schließen. Der Fall wird bei ihnen von der einzelnen Horrortat zum Symbol für Migration insgesamt.

Hier beginnt die doppelte Wirkung der Empörungslust: Multiplikatoren beider Gruppen beginnen, Äußerungen der Gegengruppe zu suchen, die das eigene Lager am stärksten und am zuverlässigsten empören. Die Hilflosen suchen und verbreiten die rassistischen Äußerungen derjenigen, die aus der Tötung eines Kindes politisches Kapital schlagen wollen. Die Radikalen suchen und verbreiten Äußerungen derjenigen, die von der Tat eines Eritreers nicht auf sämtliche Schwarze oder Migranten schließen wollen, um daraus den Vorwurf zu konstruieren, ihnen seien Kinder egal.

Obwohl meine politische Position wie meine Sympathie eindeutig ist, sehe ich durchaus Probleme auf beiden Seiten. Die Hilflosen haben zu oft eine Art Ekelfaszination entwickelt, mit der sie das Prinzip Gegenruhm größer und größer machen. Es ist und bleibt richtig, offenem Rassismus zu widersprechen. Aber viele, vielleicht die meisten Reaktionen der Hilflosen in sozialen Medien waren kein Widerspruch, sondern eher gemeinschaftliche Empörung. Zum Beispiel, wenn rassistische Einlassungen von AfD-Chefin Alice Weidel kommentiert werden mit Formulierungen, die nur darauf abzielen, sich zur Selbstvergewisserung mit der eigenen Community zusammen aufzuregen.

Das Opfer gerät völlig aus dem Fokus

Widerspruch und Empörung können zwar Hand in Hand gehen, sind aber unterschiedliche Dinge. Ich halte diese Empörung für eine Übersprungsreaktion der Hilflosen: Weil die Wut auf eine noch dazu mutmaßlich psychisch kranke Einzelperson wenig ergiebig ist, werden für die überbordenden Ablehnungsgefühle andere Adressaten gesucht. Und gefunden. Der Effekt ist letztlich, dass beide Gruppen den Tod eines Kindes in einen Anlass für politische Kommunikation verwandeln, und das Opfer völlig aus dem Fokus gerät. Die Erfahrung zeigt, dass davon die Radikalen sehr viel stärker profitieren als die Hilflosen.

Denn die Radikalen können oder wollen nicht begreifen, dass es nicht die eine Tat gibt und geben kann, durch die Rassismus plötzlich richtig ist. Egal, wie fürchterlich die Tat sein mag. Die Hilflosen aber heißen leider nicht umsonst so. Denn das ist der Fluch der liberalen Demokratie: das Eingeständnis, sich in einer freien, offenen Gesellschaft beklemmend oft hilflos zu fühlen.

Podcast-Frage:

Wie funktioniert Widerspruch ohne Empörungslust?

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.

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