
Gesichtserkennung am Berliner Südkreuz Bitte gehen Sie weiter. Hier werden Sie gesehen

1. Es ist ein Test für unsere Freiheit.
Was am Südkreuz passiert, ist ein Testlauf: Mithilfe von drei intelligenten Überwachungskameras möchte die Polizei im nächsten halben Jahr herausfinden, inwiefern es technisch möglich ist, Gesichter von Passanten aus einer Menge heraus automatisch zu erkennen - etwa um mögliche Straftäter auszumachen. Doch bevor es um die technische Machbarkeit geht, sollten zuerst andere Fragen beantwortet werden: Ist eine solche Überwachung überhaupt rechtlich möglich? Und bringt sie so viel, dass eine so weitreichende Datensammlung gerechtfertigt ist? Vor allem aber: Wollen wir das? Der Test am Südkreuz wird auch ein Test für unsere Freiheit.
2. Es bleiben Zweifel am Nutzen.
"Mit dieser Technik könnte es gelingen, Straftaten und Gefahrensituationen im Vorfeld zu erkennen. Mögliche Gefährder könnten vor einem geplanten Anschlag festgestellt und dieser verhindert werden", heißt es von der Bundespolizei zum Ziel des Tests. Sieht man sich allerdings die Terroranschläge und Attentate der Vergangenheit an, darf bezweifelt werden, ob Kameras mit Gesichtserkennungssoftware eine große Hilfe gewesen wären. An welcher Stelle wäre Anis Amri gestoppt worden, bevor er mit einem Laster in den Weihnachtsmarkt fuhr? Wie wäre eine Messerattacke wie in Hamburg-Barmbek verhindert worden? Hätte der sogenannte U-Bahn-Treter in Berlin nicht zugetreten, wenn die ohnehin vorhandenen Überwachungskameras auch noch mit Gesichtserkennungssoftware bestückt gewesen wären? Kameras halten Straftäter nicht ab. Das wird sich auch durch bessere Kameras nicht ändern. Allenfalls bei der anschließenden Fahndung könnten die Videobilder vielleicht helfen.
3. Terroristen lernen dazu.
Sollte es eines Tages so kommen, dass Gesichtserkennungstechnologie an öffentlichen Plätzen in Deutschland zum Standard gehört, dürften das auch die Straftäter und Terroristen wissen und sich entsprechend schützen, vielleicht durch Hüte und Sonnenbrillen. Klar ist: Die meisten Überwachungsmaßnahmen treffen weniger die gut organisierten Kriminellen als vielmehr die Schutzlosen. Obdachlose zum Beispiel.
4. Schon der Testlauf hat bizarre Züge.
Etwa 250 freiwillige Tester hat die Polizei für das Projekt am Südkreuz gefunden. Sie sollen nun möglichst oft durch den Bahnhof laufen, es winkt ein Amazon-Gutschein über 25 Euro . Den drei Testern, die am häufigsten im Testbereich auftauchen, sind als Hauptpreise eine Apple Watch, ein Fitbit-Armband und eine GoPro versprochen. Die Belohnung wirkt befremdlich: Wenn der Staat etwas für ihn so Wichtiges ausprobieren möchte im Kampf gegen Kriminalität, warum verteilt er dafür Amazon-Gutscheine? Dass in einem so hochumstrittenen Datenprojekt ausgerechnet eine amerikanische Firma wie Amazon involviert ist, wirkt unglücklich. Auch wenn es einen guten Grund für Gutscheine geben mag - schöner wäre es doch, wenn jede Testperson fürs Mitmachen einfach 25 Euro bekäme, die sie ausgeben kann, wo sie möchte. Am besten auch dann, wenn sie letztlich doch nicht so oft am Bahnhof war. Gut 6000 Euro extra dürfte dem Staat der Kampf gegen den Terror ja wohl wert sein. Und wenn es wirklich ein Gutschein sein muss, hätte es vielleicht auch ein anderer getan.
5. Die Überwachung betrifft alle.
Die besagten Freiwilligen haben sich registrieren lassen, tragen einen Transponder bei sich und lassen sich von der Polizei identifizieren. Alle anderen machen allerdings auch mit, wenn sie durch die Testzone laufen - nur ohne den Amazon-Gutschein. Denn auch die Gesichter der anderen Passanten werden in der Testzone ja erfasst, wenn auch ohne Identifikation. Genau das ist eines der größten Probleme jeglicher Überwachung: Selbst wenn man mit einer Maßnahme gar nicht gemeint oder nicht für sie von Interesse ist, taugt man beim großen Datensammeln zumindest noch als Teil der Abgleichmasse. Nutzer des Südkreuz-Bahnhofs, die das nicht möchten, können die markierten Testbereiche meiden und werden dann laut Polizei nicht erfasst.

6. Immer mehr Behörden bekommen Zugriff auf unser Gesicht .
Im Mai erst hat der Bundestag eine Änderung des Personalausweis-Gesetzes beschlossen. Darin wird unter anderem geregelt, dass die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern "zur Erfüllung ihrer Aufgaben" künftig das biometrische Lichtbild im Ausweis automatisiert aus den Registern der Pass- und Personalausweisbehörden abrufen dürfen. Bislang ist dies nur in begrenzten Fällen und durch wenige Stellen erlaubt. Nun sollen auch etwa Geheimdienste, Steuer- und Zollfahnder auf die Fotos zugreifen können. Die Bilder sind also schon da. Fehlt nur noch die Erlaubnis, die Gesichter aller Passanten scannen zu dürfen.
7. Heutige Datensammlungen können morgen gefährlich werden.
Selbst wenn Innenministerium und Polizei heute nur die alleredelsten Ziele verfolgen sollten, so lässt sich nichts über kommende Machtverhältnisse sagen. Was, wenn wieder Faschisten an die Macht kommen, die Oppositionelle verfolgen möchten? Was, wenn eines Tages Linke an die Macht kommen und Jagd auf ehemalige Pegida-Demonstranten machen? Was, wenn irgendwann der IS hier übernimmt und jederzeit sehen kann, wer sich am Südkreuz Alkohol gekauft hat? Das klingt heute albern, und bleibt es hoffentlich auch. Doch wie schnell sich die Verhältnisse in einem Land ändern können, zeigt sich gerade in der Türkei. Und dass Trump Präsident der USA wird, haben viele auch nicht kommen sehen. Wer Überwachungssysteme installiert, übergibt sie auch seinen Nachfolgern - und damit vielleicht in die falschen Hände.
8. Das Vermummungsverbot bekommt eine neue Dimension.
Schon jetzt ist es Demonstranten untersagt, ihr Gesicht durch Hüte oder Schals zu verstecken. Viele machen das trotzdem, weil sie den Kameras von Polizei und Presse entgehen möchten. Sollten staatliche Kameras mit Gesichtserkennungssoftware sich durchsetzen, wird dieses Dilemma noch viel größer - auch für all diejenigen, die friedlich demonstrieren möchten. Denn der Staat könnte binnen Sekunden feststellen, wer an welcher Demo teilgenommen hat. Da überlegt sich mancher zweimal, ob er demonstrieren geht.
9. Wo Daten anfallen, können sie missbraucht werden.
Was gehackt werden kann, wird gehackt. Wer riesige Datensammlungen mit biometrischen Fotos in Kombination mit einem intelligenten Kameranetz anlegt, riskiert, dass irgendwann nicht "nur" Staat und Polizei Zugriff auf diese Daten haben. Sondern auch Kriminelle - oder andere Staaten. Hacker gibt es überall.
10. Wir müssen die Überwachung hinterfragen.
Noch mehr zu fürchten als ein Staat, der seine Bürger überwachen will, sind Bürger, die das gleichgültig hinnehmen. Wir als Gesellschaft sollten zumindest kritisch hinterfragen, ob die Überwachung wirklich das bringt, was sie angeblich bringen soll. Und ob dieser Nutzen die Einschränkung der Freiheit überwiegt - und zwar jetzt und in Zukunft. Der Test am Südkreuz ist eine gute Gelegenheit, damit anzufangen.