Indiens Internetsperren Offline, wenn die Polizei es will

Mehr als hundert Mal wurde 2019 in Indien das Internet abgestellt. Widerstand dagegen gebe es kaum, sagt ein Netzaktivist aus Bangalore auf dem Hackertreffen 36C3 - und blickt skeptisch in die Zukunft.
Indische Männer an Smartphones (Archivbild): Immer wieder wird in einzelnen Gegenden das Internet abgeschaltet

Indische Männer an Smartphones (Archivbild): Immer wieder wird in einzelnen Gegenden das Internet abgeschaltet

Foto: Narinder Nanu/ AFP

"Dies ist die Zeit, um Frieden, Einheit und Brüderlichkeit zu erhalten. Ich appelliere an alle, sich von jeder Art von Gerüchten und Unwahrheiten fernzuhalten." Mit Nachrichten wie dieser wendet sich Indiens Premierminister Narendra Modi an seine Followerschaft, an mehr als 50 Millionen Twitter-Nutzer. Modi setzt Online-Kanäle so bewusst ein wie kein indischer Premier vor ihm. 2015 startete seine Regierung die Kampagne "Digital India" mit dem Ziel, auch Indiens Dörfer zu vernetzen.

Mit den Jahren ist Indien tatsächlich digitaler geworden, zuletzt war von 630 Millionen Internetnutzern die Rede . Die große Mehrheit der Inder surft, streamt und chattet per Smartphone, das Land gilt als Hochburg für Apps wie WhatsApp und TikTok. Datentarife sind viel günstiger als in Deutschland oder den USA.

Doch es liegt auch ein Schatten über Indiens Digitalrevolution. Das Land filtert das Netz - verglichen etwa mit China - zwar recht wenig: Aufregung gab es dabei zum Beispiel über gesperrte Pornoseiten, die sich jedoch mithilfe legaler VPN-Dienste weiter abrufen lassen.

Mehr als 100 Mal war das Internet weg

In keinem anderen Land der Welt wurde in den vergangenen Jahren jedoch so häufig das Internet abgeschaltet wie in Indien. Für 2018 sind auf der Website Internetshutdowns.in  134 Abschaltungen dokumentiert, für dieses Jahr sind es bereits 105. Die Abschaltungen sind zwar fast immer lokal, es geht um bestimmte Regionen oder auch nur Nachbarschaften. In der Masse aber haben die offiziell angeordneten Ausfälle Symbolkraft und sind weit mehr als Einzelfälle.

In den von Abschaltungen betroffenen Orten können Menschen meist nur noch telefonieren. Keine Online-Nachrichten oder Lebenshilfe-Tipps mehr, keine Chats mit Freunden, keine Zahlungen mit Diensten wie Google Pay. Und auch keine Tweets mehr von Modi.

Im Land gibt es trotzdem wenig Widerstand gegen die Abschaltungen, sagt Kiran Jonnalagadda . Die Zahl der Vorfälle sei zwar hoch, sagt der Netzaktivist beim Leipziger Hackertreffen 36C3, für viele Menschen sei sie aber auch abstrakt. "Wer nicht selbst betroffen ist, weiß nicht, worüber er sich aufregen soll."

Netzaktivist Kiran Jonnalagadda

Netzaktivist Kiran Jonnalagadda

Foto: privat

Die meisten Inder fänden es wohl in Ordnung, wenn die Polizei irgendwo das Netz sperre, sagt Jonnalagadda: Solche Nachrichten würden hingenommen, solange es einen nicht selbst betreffe. Und offiziell gehe es ja darum, Gewalt oder die Verbreitung von "Fake News" zu verhindern. Dem halten Kritiker wie Jonnalagadda entgegen, dass Einschränkungen bei der Kommunikation auch zu mehr Unsicherheit und Chaos führen könnten.

Dass Indien tatsächlich ein Problem mit "Fake News" hat, bestreitet Jonnalagadda nicht. Viele Inder würden keine Zeitung lesen, sagt er, "wenn ihnen jemand aber irgendetwas auf WhatsApp schickt, glauben sie das, weil sie den Absender kennen". Statt Totalabschaltungen des Netzes fordert er Investitionen in Medienkompetenz und Aufklärung sowie mehr technische Mittel, um gegen Falschinformationen vorzugehen.

Kaschmir ist besonders betroffen

Jonnalagadda selbst lebt in Bangalore, wo es bislang keine Internet-Einschränkungen gab. "Die Polizei hier achtet sehr darauf, welches Bild sie in der Öffentlichkeit abgibt", sagt der Netzaktivist. Ausgerechnet Bangalore, das oft Indiens "Silicon Valley" genannt wird, abgeschottet vom Internet: Solche Schlagzeilen will offenbar niemand riskieren.

Netzabschaltungen gab es in den vergangenen Monaten in vielen Regionen Indiens , dutzendfach etwa in den Bundesstaaten Rajasthan und Uttar Pradesh. Mit Abstand am heftigsten betroffen ist jedoch die Krisenregion Kaschmir, wo die meisten Menschen seit über vier Monaten nicht mehr mit ihren eigenen Geräten online gehen können.

Da waren sie bereits 100 Tage offline: Proteste von Journalisten aus Kaschmir im November

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Foto: Danish Ismail/ REUTERS

Aus Kaschmir gibt es Berichte von Online-Händlern, deren Geschäft stagniert, und von Pendlern, die nur deshalb mit dem Zug woandershin fahren , um dort endlich ins Netz zu gehen. Bei manchem WhatsApp-Nutzer haben sich offenbar sogar bereits die Accounts deaktiviert , was dem Dienst zufolge nach 120 Tagen Inaktivität passiert.

Laut Jonnalagadda sind nur wenige Technikexperten in der Lage, sich während einer Abschaltung alternative digitale Kommunikationskanäle zu schaffen, etwa mit Apps wie FireChat, die Mobilgeräte per Bluetooth direkt miteinander verbinden.

Studenten können in Kaschmir Behördencomputer nutzen, um online zu gehen: Ihre Privatgeräte bleiben offline

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Foto: Tauseef Mustafa/ AFP

Die Entscheidung, ob das Internet abgeschaltet wird, treffe in Indien in der Regel die örtliche Polizei, sagt Jonnalagadda. Als Begründung reiche die Sorge vor Unruhen. Die Kunden der Provider würden bei solchen Präventiv-Abschaltungen oft per Kurznachricht vorab informiert.

Jonnalagadda wünscht sich, dass sich das Innenministerium klar gegen die Abschaltungen positioniert und Richtlinien für die Polizei erlässt. Das sei bisher nicht geschehen. Auch Indiens höchstes Gericht habe noch kein Urteil zum Thema gefällt.

Es werde daher wohl auch 2020 weitergehen mit den Netzsperren, befürchtet Jonnalagadda. Es fehle der öffentliche Protest; zudem gehöre das Vorgehen vielerorts bereits zum "Werkzeugkasten" der Polizei. Bei Protesten gegen eine Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes hatte es zuletzt etwa im Bundesstaat Assam und sogar in Teilen der Metropole Delhi  Internetabschaltungen gegeben.

Die Regierung Modi würde wohl am ehesten auf Druck aus dem Ausland reagieren, meint Jonnalagadda. Bislang jedoch seien Medienberichte zu den Internetabschaltungen für Indiens Image noch unproblematisch. "Sie werden dafür nicht genug kritisiert", sagt Jonnalagadda.

Andernorts wird derweil durchaus wahrgenommen, was in Indien passiert. Dies zeigte kürzlich etwa ein Artikel über die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz. Darin hieß es , der Fall Indien zeige, dass das Abschalten des Internets in Notfallsituationen für "souveräne Staaten" zur "Standardpraxis" gehören sollte. Erschienen war der Artikel in "People's Daily", einer staatlichen Zeitung aus China.


Videotipp: Auf dem 36C3 in Leipzig spricht Kiran Jonnalagadda am Montag um 13.30 Uhr über Aadhaar , eine umstrittene staatliche Biometrie-Datenbank Indiens. Der Vortrag lässt sich hier live verfolgen .

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