Verfassungsrichter zu Datenschutz "Zur Freiheit gehört die Chance des Vergessens"
SPIEGEL ONLINE: Herr Masing, das Hamburger Landgericht hat entschieden, dass Google sechs heimlich aufgenommene Sexfotos von Ex-Motorsportboss Max Mosley nicht mehr in seinen Suchergebnissen anzeigen darf. Brauchen wir ein Recht auf digitales Vergessen?
Masing: Zur Freiheit gehört zumindest die Chance des Vergessens. Es ist ein Wesensmerkmal der Freiheit, dass nicht alles, was wir jemals getan haben, uns jederzeit von Dritten beliebig wieder vorgehalten werden darf. Umgekehrt kann es aber auch kein Recht geben, dass alles, was jemand bisher getan hat, unter den Mantel des Schweigens gerät. Die Idee, jederzeit auf "Reset" zu drücken und so zu tun, als hätte man bisher nicht gelebt, entspricht Freiheit in der freien Gesellschaft aber auch nicht. Denn wir leben nicht allein.
SPIEGEL ONLINE: Müssen wir also damit klarkommen, dass die Netznutzer um uns herum womöglich ein gutes Gedächtnis haben?

Johannes Masing, 55, ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg und als Richter am Bundesverfassungsgericht zuständig für Verfahren zu Pressefreiheit, Demonstrationsrecht und Datenschutz.
Masing: Das Recht auf Vergessen wird ja vor allem diskutiert gegenüber den großen Internetfirmen. Zum Teil gibt es solche Ansprüche auch längst. Es spricht vieles dafür, dass man Ansprüche auf Löschung gegenüber Anbietern stärken und effektivieren sollte, die Kommunikationsstrukturen im Internet anbieten.
SPIEGEL ONLINE: Daten können nun einmal verlustfrei kopiert werden. Kann man überhaupt zuverlässig Informationen löschen, die einmal im Netz veröffentlicht wurden? Kann man Daten mit einem Verfallsdatum versehen?
Masing: Ich habe keine hinreichenden technischen Kenntnisse, ob so ein Verfallsdatum möglich wäre. Man sollte sich aber nicht zu schnell mit dem "Alles oder Nichts" zufriedengeben. Es gibt schon jetzt sehr differenzierte Regelungen, wer wann welche Nachricht verbreiten darf. Man muss zwar immer damit rechnen, dass Informationen an entfernter Ecke recherchiert werden können. Wann aber was verbreitet werden darf, ist eine andere Frage, und da kommt es auch darauf an, in welcher Weise die Informationen zugänglich gemacht werden und wo sie zu finden sind.
SPIEGEL ONLINE: Warum macht es einen Unterschied, wo öffentliche Informationen zu finden sind?
Masing: Es ist schon etwas anderes, ob ich meinen Namen bei Google eingebe und sofort jahrzehntealte Zeitungsberichte über mich finde oder ob jemand in irgendwelchen Archiven auf dieselben Informationen stößt. Wenn ich zum Beispiel eine Wohnung suche, geht der Vermieter ja nicht in die Universitätsbibliothek und schlägt in alten Zeitungen nach, ob er zufällig etwas über mich findet. Meinen Namen googeln kann er aber schnell.
SPIEGEL ONLINE: Manche argumentieren, solche Löschungen von Inhalten seien eine Form der Zensur, das Internet solle unbeschränkten Zugang zu Informationen bieten.
Masing: Zensur ist es natürlich nicht. Zensur im eigentlichen Sinne heißt nämlich, dass vor einer Veröffentlichung eine Genehmigung erforderlich ist. Aber was damit angesprochen ist, ist der ganz schwierige Ausgleich zwischen Freiheit und Persönlichkeitsrechtschutz. Datenschutz ist Kommunikationsregulierung. Wenn man dieses Wort benutzt, merkt man, dass der Datenschutz auch nicht zu weit gehen darf. Denn eine freie Gesellschaft lebt davon, dass wir Daten austauschen, und zwar auch personenbezogene Daten.
SPIEGEL ONLINE: Dem kann man sich nicht entziehen?
Masing: Die Frage, wem welche Ehre gebührt oder worüber man sich empört oder nicht, das kann nicht jedes Mal anonym ausgetragen werden. Da muss man sich auch gefallen lassen, dass die anderen das eigene Tun aufgreifen, es diskutieren, kommentieren und auch polemisch angreifen. Man kann nicht jedes Mal sagen: Das sind meine persönlichen Daten, ich will nicht, dass das irgendwo erscheint. Wir leben im Umfeld mit anderen und müssen auch hinnehmen, dass andere auf uns reagieren - auch in der Öffentlichkeit. Reine Privatpersonen sind wir nicht.
SPIEGEL ONLINE: Sind die Nutzer selbst verantwortlich, wenn sie leichtfertig so viel über sich im Netz teilen?
Masing: Das ist richtig. Aber der Hintergrund des Ganzen ist die Freiheit. Jeder kann grundsätzlich selbst entscheiden, wie öffentlich er sein Leben machen möchte oder wie privat er es halten will. Deshalb müssen wir versuchen, das Recht so zu gestalten, dass jeder Einzelne diese Entscheidung wirksam treffen kann - und nicht indirekt gezwungen ist, Daten von sich preiszugeben, wenn das nicht nötig ist.
SPIEGEL ONLINE: Wer aber etwas im Netz teilt, muss immer bedenken, dass es für immer ist?
Masing: Auch wenn jemand - etwa über ein soziales Netzwerk - etwas allgemein öffentlich ins Internet stellt, kann das Recht die Möglichkeit vorsehen, dass er es irgendwann auch wieder verschwinden lassen kann. Es muss nicht für alle Zeit als quasi "öffentliches Gut" belassen werden. Es könnte das Recht geben, nach einer bestimmten Zeit Löschungsansprüche zu stellen oder eine frühere Einwilligung zurückzuziehen - zum Beispiel gegenüber übergroßen Netzwerkunternehmen, die damit viel Geld verdienen.
SPIEGEL ONLINE: Diese Unternehmen sind ja meist international. Was bringt es mir, wenn ich ein Problem mit einem amerikanischen Unternehmen habe und ein deutscher Richter etwas entscheidet?
Masing: Gegen diese großen Internetunternehmen halte ich es für unabdingbar, dass wir zumindest auf europäischer Ebene eine Einigung finden. Ich glaube, wenn Europa zusammenarbeitet, steigen die Chancen erheblich, sich damit durchzusetzen - auch im transatlantischen Dialog.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie eine Chance auf Vergessen hätten: Gibt es etwas über Sie, was sie gern aus dem Internet getilgt hätten?
Masing: Da fällt mir jedenfalls spontan nichts ein. Ich habe die sozialen Netzwerke aber auch nie benutzt; auch suche ich nicht danach, was im Netz alles über mich verbreitet wird. Deshalb weiß ich weithin gar nicht, was in den Foren über mich zu lesen ist. Als Person, die ein herausgehobenes öffentliches Amt innehat, stehe ich aber natürlich in besonderer Weise in der Öffentlichkeit und muss mir gefallen lassen, dass man sich mit meiner Person im Zweifel anders und offensiver auseinandersetzt als mit einer Privatperson.