Online-Aktivist Michael Anti "Chinas Netz ist nur so frei, wie die Partei es will"

Kurz vor dem Machtwechsel verschärft Peking die Internetzensur. Im Interview erklärt der Online-Rebell Michael Anti, wie die Partei Milliarden von Einträgen kontrolliert - und das Web für ihre Zwecke nutzt. Er sagt: "Der Traum von der Cyberrevolution in China ist westliches Wunschdenken."
Michael Anti: Der Online-Aktivist beobachtet die Online-Strategie der Machthaber in China

Michael Anti: Der Online-Aktivist beobachtet die Online-Strategie der Machthaber in China

Foto: Sophia Lee

Michael Anti , Geburtsname Jing Zhao, ist der wohl bedeutendste regimekritische Blogger Chinas. Der 1975 in der Provinz Nanjing geborene Online-Aktivist arbeitete unter anderem in den Pekinger Korrespondentenbüros von "New York Times" und "Washington Post" und trat als Gastredner bei der TED-Konferenz auf. International bekannt wurde er 2005, als Microsoft auf Wunsch der chinesischen Regierung sein Blog löschte.

SPIEGEL ONLINE: Herr Anti, die chinesische Regierung hat die Internetzensur zuletzt verschärft. Dennoch sind Seiten wie das Twitter-Pendant Weibo voller politischer News und Gerüchte. Verliert Peking die Kontrolle über das Internet?

Anti: Nein. Der Traum von der Cyberrevolution in China ist westliches Wunschdenken. Weibo und andere Mikroblogs haben die politische Berichterstattung sicher zum Besseren verändert und Bürgern neue Freiräume verschafft. Doch die Zentralregierung hat nach wie vor die volle Kontrolle.

SPIEGEL ONLINE: Gelangt nicht immer wieder Verbotenes ins Netz? Die Online-Berichterstattung über den gestürzten Polit-Überflieger Bo Xilai etwa wurde im April strikt unterbunden. Seit einigen Tagen aber finden sich über ihn wieder Suchergebnisse im chinesischen Web - obwohl das Verbot nie aufgehoben wurde.

Anti: Bo ist inzwischen offiziell aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden und muss sich vor Gericht wegen angeblichen Amtsmissbrauchs und Bestechung verantworten. Er ist zum Abschuss freigegeben - was Web-Dienste wie Weibo ausnutzen. Das Risiko, für Berichte über Bo bestraft zu werden, ist gering. Zumindest so lange, wie sie nicht das Vorgehen der Regierung in dem Fall kritisieren.

SPIEGEL ONLINE: Die chinesische Regierung toleriert also kritische Online-Berichte, solange diese ihren Zwecken nutzen?

Anti: Mehr noch, die Zentralregierung instrumentalisiert das Web, um Druck auf unbequeme Provinzfürsten auszuüben. Europäische und amerikanische Medien berichten viel über die chinesische Internetzensur. Dabei ist es viel interessanter zu analysieren, welche brisanten Nachrichten nicht zensiert werden - und welche politische Taktik dahinter steckt.

SPIEGEL ONLINE: Ein Beispiel, bitte.

Anti: Zwischen Februar und April wurden Enthüllungen in der Affäre um Bo Xilai frei über Weibo verbreitet. Beobachtern galt das schon damals als Zeichen dafür, dass er den Schutz der Partei verliert und sich seine Karriere dem Ende neigt.

SPIEGEL ONLINE: Was wird noch nicht zensiert?

Anti: Auf Weibo gibt es regelmäßig Enthüllungen über lokale Korruptions- und Lebensmittelskandale. Es gab etwa den Fall von Yang Dacai, einem hochrangigen Funktionär in der Provinz Shaanxi. Auf Weibo kursierten eine Reihe Fotos, auf denen er teure Armbanduhren trägt, insgesamt gut ein halbes Dutzend protzige Modelle. Internetnutzer warfen ihm Korruption vor. Mitte September wurde bekannt, dass er von der KP geschasst wurde.

SPIEGEL ONLINE: Die Zentralregierung nutzt also das Netz, um die Massen zu mobilisieren?

Anti: Ja, und sie bedient sich dabei einer altbewährten Strategie. Schon Mao hetzte Mitte der sechziger Jahre Studenten gegen das bestehende System auf. Heute lässt Peking den Massen Graubereiche im Internet, um Missstände in den Provinzen zu beseitigen. Wohlgemerkt nur, wenn die Zentralregierung an deren Aufklärung selbst ein Interesse hat. Angriffe gegen das Machtzentrum der Partei dagegen werden konsequent unterbunden. Chinas Internet ist nur so frei, wie die Partei es will.

SPIEGEL ONLINE: Wie kontrolliert die Zentralregierung das Internet?

Anti: Die Server für Mikroblogs und andere soziale Netzwerke stehen allesamt in Peking. Nur dort bekommen Internetfirmen seit 2009 noch eine entsprechende Lizenz. Wenn ein Provinzfürst etwas aus dem Netz löschen will, muss er in Peking anrufen - oder einem Funktionär der zentralen Zensurbehörde großzügige Geschenke machen. Die Zentralregierung hat die volle Kontrolle über die relevanten Server.

SPIEGEL ONLINE: Besteht nicht dennoch die Gefahr, dass die Diskurse sich verselbständigen - und sich letztlich auch gegen Peking richten?

Anti: Es gibt in der Geschichte des chinesischen Internets nur einen einzigen Fall, in dem die Regierung überhaupt für einen kurzen Augenblick Gefahr lief, die Kontrolle über die Diskussion im Netz zu verlieren: Ende März kursierten im Netz Gerüchte über einen Staatsstreich in Peking. Dienste wie Weibo wurden für einige Tage weitgehend geblockt. Netznutzer, die die Gerüchte weiterverbreitet hatten, wurden festgesetzt. Das harte Durchgreifen war ein deutliches Signal: Haltet euch an die Zensurregeln - sonst steht eure Existenz auf dem Spiel. Bislang haben sich die Web-Riesen daran gehalten.

SPIEGEL ONLINE: Die Chancen, dass das Internet eine Demokratiebewegung in Gang setzt, stehen also schlecht?

Anti: Ja. In China regiert der Pragmatismus. Die allermeisten Chinesen, selbst diejenigen, die die Internetzensur umgehen können, halten sich an die Regeln, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Selbst für viele chinesische Verfechter einer freien Gesellschaft liegt Demokratie hinter einer verschlossenen Tür. Sie können sich nicht vorstellen, was dahinter liegt. Und sie versuchen gar nicht erst, das Schloss aufzubrechen.

SPIEGEL ONLINE: Was würde passieren, wenn es plötzlich keine Internetzensur mehr gäbe?

Anti: Hunderte Millionen Menschen müssten lernen, dass die Geschichtsdeutung, die sie in der Schule gelernt haben, eine Lüge ist. Ihr Vertrauen in die Regierung würde fundamental erschüttert. Es wäre das Ende der kommunistischen Partei.

Das Interview führte Sophia Lee

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