
Umgang mit Russland Bigotterie ist ein Meister aus Deutschland


»Stoppt-den-Krieg«-Demo: Pazifismus, angereichert mit Hybris
Foto: Fabian Sommer / dpaPutins Überfall auf die Ukraine hat nicht nur für Zehntausende Tote und Verletzte und Millionen Geflüchtete gesorgt, sondern in der Folge auch eine Reihe deutscher Nationalbigotterien entlarvt. Die folgende Begebenheit aber erreicht spielend eine erdkernnahe Unterirdik. Eine Reihe bekannter und weniger bekannter Organisationen hatte für den 13. März 2022 zur großen Demonstration »Stoppt den Krieg!« in Berlin gerufen: von Greenpeace bis zur evangelischen Kirche, von Urgewalt bis Kurve Wustrow, von ver.di bis Attac. Ebenfalls mitdemonstrieren wollte vitsche.org , ein Zusammenschluss junger ukrainischer Menschen, die sich gegen den Krieg wenden und für Geflüchtete engagieren. Das lehnten die Organisatoren aber ab.
Der Grund war offenbar, dass die ukrainischen Aktivisten auf ihrer Website neben vielen anderen Punkten auch Waffenlieferungen an die Ukraine vorschlagen . Leute also, die lautstark auf ihrer Website »Solidarität mit den Menschen in der Ukraine« behaupten und die vom russischen »Angriffskrieg« sprechen, sind dann lieber doch nicht solidarisch, wenn besagte Ukrainer*innen sich verteidigen wollen. Man fühlt sich an diejenigen erinnert, die »aus historischen Gründen« stets mit toten, weil von Deutschland ermordeten Juden solidarisch sind – aber nie mit lebenden Juden etwa in Israel.
Die Haltung der deutschen Friedensdemonstranten lässt sich vornehm mit Pazifismus umschreiben, und wer wollte diese Weltsicht im Ursprungsland der Wehrmacht verdammen? Leider ist der deutsche Pazifismus, das zeigt der erbärmliche Umgang mit Vitsche.org, angereichert mit einer Hybris, die heißt: Unsere deutschen Friedensprinzipien sind wertvoller als euer Wunsch zu überleben. Das ist die Nationalbigotterie des deutschen Pazifismus, der keinesfalls immer, aber doch verdächtig oft in Richtung eines kollektiven Überlegenheitsnarzissmus abrutscht. Denn es ging ja keine Sekunde darum, auf der Demo Soldaten zu rekrutieren oder begeistert die Bundeswehr in die Ukraine zu schicken – sondern schlicht um die Teilnahme derjenigen, die zu allererst und unmittelbar betroffen sind. Wenn Pazifismus eindeutigen Angriffsopfern übel nimmt, dass sie sich verteidigen, wird er zur Farce und bekommt den bigotten Beigeschmack, neben einem Raubüberfall zu stehen und beide Seiten zur Gewaltlosigkeit zu ermahnen.
Um mich herum die Sintflut
Dass Putins Krieg in dieser Dimension überhaupt möglich wurde, liegt maßgeblich an der Nationalbigotterie der deutschen Ego-Geopolitik nach dem Motto »aus den Augen, aus dem Sinn«. In knappen, klugen Worten hat Constanze Stelzenmüller im »Economist« das zusammengefasst : »Deutschland hat seine Sicherheit an die USA ausgelagert, seinen Energiebedarf an Russland und sein export-bedingtes Wirtschaftswachstum an China.«
Um die Größenordnung dieser Auslagerungen zu beschreiben: Etwa jeder fünfte Soldat auf deutschem Boden ist Amerikaner, und die Dysfunktionalität der Bundeswehr ist überhaupt nur möglich, weil im Notfall ja immer jemand mit funktionierendem Equipment da ist. Über 40 Prozent des in Deutschland verbrauchten Öls stammt aus Russland, rund 50 Prozent der Kohle und etwa 55 Prozent des Erdgases. Und die für Deutschland so überaus wichtige Autoindustrie verkauft fast 40 Prozent ihrer Autos in China, weshalb die letzte Bundesregierung mit China geradezu liebedienerisch umging.
Die Haltung hinter allen drei Abhängigkeiten ist in unterschiedlichen Abschattierungen immer dieselbe: Wenn Deutschland eine vermeintlich gute Opportunity für sich entdeckt, ist eigentlich alles andere egal. Um mich herum die Sintflut. Sogar das wäre, Stichwort Realpolitik, vielleicht noch irgendwie nachvollziehbar, aber Bigotterie wird daraus, indem man das Gegenteil behauptet, dass also Moral wichtiger sei als Exporterfolg und billige Energieversorgung. Im Fall der Öl-, Kohle- und Gas-Importe sind die Folgen der über Jahre von den Regierungen Merkel zementierten Russland-Abhängigkeit besonders katastrophal. Dadurch hat Deutschland allzu scharfe Sanktionen nach Putins Krim-Annexion verhindert, die dieser zu Recht gedeutet hat als: Ich kann mir eigentlich alles erlauben.
Daraus erwächst direkt die nächste deutsche Nationalbigotterie: Konsequenzenarmut trotz Klarsicht. Wladimir Putin ist beinahe unbeschadet durchgekommen mit folgenden, in Deutschland gut ausgeleuchteten Aktionen: Georgien-Krieg, Überfall und Annexion der Krim, Manipulation der Öffentlichkeit zur Destabilisierung der EU, Vergiftung und Einsperrung von Nawalny, Vergiftung von Dritten in der EU, Unterstützung rechtsradikaler Parteien in ganz Europa, staatliche Ermordung eines Mannes in Deutschland, Bundestags-Hack, Streubomben und Giftgas-Einsatz in Syrien , absichtsvolle Bombardierung von Zivilisten und Krankenhäusern ebendort. Das alles hat über Jahre nicht einmal ausgereicht, um Nord Stream 2 zu stoppen. Und offenbar auch nicht, strukturell gegen die Abhängigkeit von Putin vorzugehen. Stattdessen haben sich Merkels verschiedene Koalitionen und auch ihre eigene Partei am Ende sogar dazu entschieden, dem Ausweg durch erneuerbare Energien alle möglichen Steine in den Weg zu legen. Unvergessen Armin Laschets Windrad-Verhinderungsgesetz, nach dem ein Windrad weiter von einer menschlichen Behausung entfernt sein muss als ein Steinbruch mit Sprengaktivitäten oder eine Abdeckerei.
Und schließlich wird durch Putins Krieg natürlich auch die deutsche Nationabigotterie zu Putin überdeutlich. Die gleichen Leute, die über Jahrzehnte die Verharmlosung und Schönrederei betrieben haben, verbreiten nach ein paar Tagen Schamesfrist einfach ungerührt weiter Putin-Propaganda. Natürlich immer mit dem Zusatz, dass so ein Angriffskrieg zwar eher nicht klarginge, dann aber gefolgt von unglaublich viel Verständnis der schwierigen Lage, in der Putin sich durch die tiefböse Nato und die beinahe ebenso böse EU befunden habe.
»Schlimm getäuscht«
Der Begriff »Putin-Versteher« ist dabei spätestens seit der Krim-Annexion eine arge Verharmlosung, denn es muss Putin-Propagandist heißen. Zur Nationalbigotterie gehört auch, dass Putins Kommunikationsfußtruppen immer so taten, als müsse man dem heutigen russischen Diktator alles durchgehen lassen, sonst sei man Kriegstreiber. Und jetzt sind sie schwer geschockt, erklären, wir alle hätten uns geirrt, das habe man alles nicht wissen können. Auch abseits von Putinisten wie Klaus von Dohnanyi, Matthias Platzeck oder Gerhard Schröder gibt es Leute, die ansonsten höchste moralische Maßstäbe an alle anlegen, in diesem Fall genau das aber bisher leider leider versäumt haben, zum Beispiel die Grüne Legende Hans-Christian Ströbele: »Nach Kriegswoche: Auch ich wurde schlimm getäuscht.« Das schrieb Christian Ströbele ernsthaft auf Twitter, und erklärte sich damit vor allem selbst zum Opfer von Putin. Nicht ohne anzufügen: »Jetzt warne ich vor Eskalation zu Weltkrieg. Das hilft auch Ukraine nicht.« Woraus man eigentlich nur die unter Putinfans beliebte Schlussfolgerung ziehen kann, die Ukraine solle sich am besten ergeben, dann käme alles in Ordnung. Und unser Öl wäre endlich wieder billiger.
Mit am absurdesten sind die Putin-Freunde von der CSU. Markus Söder – dessen Union die letzten 16 Jahre an der Macht war (bis auf die letzten 100 Tage) – tut jetzt so, als sei die Energieabhängigkeit nicht eine aktive Entscheidung insbesondere der CSU gewesen. Bayern hat 2021 soviel Geld für russisches Gas und Öl ausgegeben wie Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden-Württemberg zusammen. Und noch anderthalb Milliarden Euro mehr. Als sei die CSU unter Söder nicht derart Putin-freundlich gewesen, dass die bayerische Regierung sogar kürzlich noch russischen Impfstoff herstellen wollte .
Es ist wichtig zu begreifen, dass retrospektiv betrachtet das Getöse der Putin-Propagandisten vor und hinter den Kulissen eben nicht nur bei den Wagenknecht-Anhängern und Klaus-von-Dohnanyi-Fans gewirkt hat. Sondern ganz offenbar leider auch bei den gemäßigten Putin-Gegnern wie etwa Angela Merkel. Die Putin-Propagandisten haben mit ihrem aggressiven Verständnis, mithilfe von Fake News, Drohkulissen und viel Geld Einfluss genommen, um jede Aktivität gegen Putin zu verwässern. Und die gemäßigten Putin-Gegner haben es mit sich machen lassen. Das ist vielleicht die bitterste Erkenntnis, was Deutschlands Nationalbigotterie betrifft: Was für eine Macht dadurch zielgerichtete Propaganda entfaltet, wenn sie auf realitätsaverse Unterstützer*innen vor Ort zählen kann. Auch wenn es um Menschenleben geht. Auch 2022 noch.