Martin Schulz zur Internet-Debatte Mahner ohne Vision

Sigmar Gabriel (l.), Martin Schulz: Vorratsdaten oder Freiheit?
Foto: Soeren Stache/ dpaHamburg - Martin Schulz hat Recht. Das Internet und die digitale Revolution haben totalitäres Potential. Der Spitzenkandidat der SPD für die Europawahl macht heute in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ("FAZ") Wahlkampf für seine Partei, indem er alle Ängste angesichts der digitalen Umwälzung aufmarschieren lässt: die Angst vor den datensammelnden Konzernen, Google, Facebook, Amazon, die Angst vor einem allsehenden Staat, wie ihn die Enthüllungen über die NSA sichtbar gemacht haben, die Angst vor der Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens durch die Sammlung und Auswertung großer Datenmengen, die Angst vor der Kontrolle des Menschen durch technische Prozesse, die Angst vor gesellschaftlicher Zersplitterung durch personalisierte Medien- und Konsumangebote. Und die Angst davor, dass Europa wirtschaftlich und technisch den Anschluss verliert.
Schulz fasst gewissermaßen die Positionen all jener Digitalisierungswarner zusammen, die sich in den vergangenen Jahren zu diesem Thema geäußert haben: "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher, der in seinen Büchern "Payback" und "Ego" vor der Berechenbarkeit des Menschen warnte, Miriam Meckel, die in "Next" die zerstörerische Macht der Algorithmen ausmalte, Evgeny Morozov, der in "Der Netzwahn" und "Smarte neue Welt" die Heilsideologen aus dem Silicon Valley als gefährliche Traumtänzer abkanzelte und Eli Pariser, der in "Filter Bubble" eine zukünftige Welt entwarf, in der jeder nur noch über das informiert wird, was in sein Weltbild passt.
Reader's Digest zu sozialdemokratischen Programm umgedeutet
Schulz versucht, diesen Reader's Digest der Digitalisierungswarnungen zu einem neuen sozialdemokratischen Programm umzudeuten. Dazu bedient er sich einer historischen Analogie: Weil die Sozialdemokratie schon im 19. Jahrhundert die Auswirkungen der Industrialisierung gezähmt und in sozial verträgliche Bahnen gelenkt habe, sei sie nun auch in der Position, der neuerlichen Revolution zu begegnen: "Wie am Ende des 19. Jahrhunderts wird eine Bewegung gebraucht, die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt und nicht zulässt, dass der Mensch zum bloßen Objekt degeneriert." Diese Bewegung müsse ein "liberales, ein demokratisches und ein soziales Staatsverständnis haben".
Es wäre schön, wenn die deutsche Sozialdemokratie die Bewegung wäre, die Schulz da beschwört. Sie ist es aber nicht.
Mit voller Zustimmung von Parteichef Sigmar Gabriel wird die SPD gemeinsam mit der Union in Deutschland aller Voraussicht nach die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen, die anlasslose, monatelange Erfassung aller Internetverbindungen, aller Telefonate und vor allem der Bewegungen aller Nutzer von Mobiltelefonen. Nach wie vor gibt es keine belastbaren Belege dafür, dass diese ungeheure Überwachungsmaßnahme tatsächlich zu mehr Verbrechensaufklärung führt. Schulz selbst spricht von einem "zunehmend paranoiden Staatsverständnis", und diese Formulierung passt hervorragend zu dem Gesetzesvorhaben, das seine eigene Partei im Bund unterstützt.
"Abwehr", "Verhindern", "Nicht zulassen"
Die SPD hat in ihrer Zeit als Regierungspartei nichts gegen die vom Bundesnachrichtendienst betriebenen Programme zur massenhaften Erfassung von Internetdaten unternommen. Sie hat in der Frage des Zugangserschwerungsgesetzes gegen Kinderpornografie auf bedauerliche Weise herumlaviert, anstatt klar Position zu beziehen gegen geheime und gleichzeitig wirkungslose Zensurlisten für das Internet. Zu Themen wie Datenschutz, bürgerliche Freiheiten im Netz, Förderung der deutschen Digitalwirtschaft haben die Sozialdemokraten bis heute keine sonderlich bemerkenswerten Beiträge geliefert. Die Netzpolitiker innerhalb der SPD haben in den vergangenen Jahren manch bittere Frustration erleiden müssen, scheiterten wieder und wieder an den Beharrungskräften der eigenen Partei - ein Schicksal, dass sie mit ihren Kollegen aus anderen Parteien teilen.
Nun aber sind die Sozialdemokraten demonstrativ darum bemüht, sich als Internetpartei neu zu erfinden. Eine Politik des "digitalen Fortschritts" wolle man entwickeln, heißt es in einem aktuellen Papier des SPD-Vorstands. Dafür wäre es in der Tat höchste Zeit, 22 Jahre nach der Erfindung des World Wide Web. Bei einem Parteitag wollen sich die Sozialdemokraten auf "die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragstellungen des digitalen Zeitalters ausrichten". Aber der findet erst 2015 statt.
Der Aufsatz von Parlamentspräsident Martin Schulz ist somit durchaus symptomatisch für das Dilemma seiner Partei: Er formuliert Ängste, spricht von "Abwehr" und "verhindern", beschwört uns alle, "die Verdinglichung des Menschen nicht zuzulassen". Zwar fordert er eine "bessere, neue Welt", in der "die Chancen einer neuen Technologie zum Wohle aller genutzt" werden - wie so eine Welt aber aussehen könnte, sagt er nicht. Die digitale Revolution führt schon jetzt zu neuen Umverteilungsprozessen, ganze Berufsgruppen verschwinden, andere entstehen jenseits traditioneller Arbeitsmarktstrukturen. Globale Konzerne gewinnen Macht, staatliche Akteure sehen bislang oft hilflos dabei zu. All das wären tatsächlich Aufgaben für eine neue Sozialdemokratie, Schulz aber beschränkt sich, wenn überhaupt, darauf, sie zu benennen.
Als Ferdinand Lasalle 1863 bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der Geburtsstunde der Sozialdemokratie, sprach, formulierte er eine Vision: die Freiheit des "vierten Standes", die für ihn "Sache der gesamten Menschheit" war, denn "seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller".
Auch Martin Schulz bemüht sich redlich, das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, aber er hat keine greifbar positive, sozialdemokratische Vision für eine digitale Zukunft anzubieten - genausowenig wie die SPD.