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Großbritannien: Wahlkampf virtuell

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Medienwahlkampf Politiker trifft (fast auf) Bürger

Im Schatten der drei TV-Debatten der Spitzenkandidaten im britischen Wahlkampf steht eine vierte Fragerunde, die jenseits der TV-Rituale stattfindet: Die vielleicht spannendste Debatte läuft online, wo sich die Spitzenkandidaten den Fragen von Facebook- und YouTube-Nutzern stellen werden.
Von Dr. Christoph Bieber

So debattenfreudig die britische Politik auch sein mag, ist Großbritannien in Sachen TV-Debatte doch ein Spätentwickler: Zum ersten Mal überhaupt wird es im britischen Fernsehen in den nächsten Wochen Debatten zwischen den Spitzenkandidaten der Parteien zu sehen geben - die erste am heutigen Donnerstag.

Dabei gehen weder Sender, noch Parteien Risiken ein. Alles ist bis an die Grenze des Bizarren geregelt. Die drei Debatten sind zwar nach dem Muster der US-amerikanischen "Townhall-Meetings" organisiert, täuschen eine locker-freie Diskussion aber letztlich nur vor:

  • Das Meinungsforschungsinstitut ICM wurde für die Auswahl der repräsentativen Zuschauer-Panels, orientiert an den prozentualen Aussichten der Parteien bei der Wahl, engagiert.
  • Produziert werden die jeweils 90 Minuten langen Sendungen streng nach Proporz in unterschiedlichen Landesteilen von unterschiedlichen Sendern.
  • Die allem zugrundeliegenden 76 Unterpunkte der Übereinkunft zur Regelung des Sendeformates  setzen eine bürokratische Rekordmarke - Debattenteilnehmer und TV-Sender haben die Produktionsbedingungen minutiös geregelt, über die Redezeitverteilung (Nr. 46-48), das Bühnenbild (Nr. 66-68) bis hin zum Verbot der Einblendung von Zuschauerreaktionen, während die Politiker reden (Nr. 71).
  • Im Rücken der großen Bühne - der Premier League der Unterhausdebatten - erhalten die durch das Mehrheitswahlrecht benachteiligten kleineren Parteien und auf einzelne Regionen beschränkte Parteien eigene Foren.

Um den Bildungsanspruch auch in jüngere Bevölkerungsschichten zu tragen, schließen die Debatten das Internet als Kommunikationskanal ein - die Digitalisierungselemente sind allerdings sehr schwach ausgeprägt, bestenfalls eine Handvoll per E-Mail eingereichter Fragen wird den Weg in die Fernsehstudios finden. Immerhin aber bieten die TV-Sender ein Livestreaming der Debatten an, auf diese Form der informationellen Grundversorgung hatten die deutschen Sendeanstalten im jüngsten Bundestagswahlkampf verzichtet. Anders als deutsche Sender lassen sich die Briten auch auf eine Live-Kommentierung der Ereignisse auf dem Bildschirm ein: In Echtzeit finden Kommentare via Facebook oder Twitter den Weg auf den TV-Bildschirm - ein nicht unerhebliches Risiko in Anbetracht der Tatsache, dass Online vor allem gern gelästert wird.

Die drei TV-Debatten werden demnach wohl zwei Zielgruppen ansprechen: Die klassischen Fernsehzuschauer, die Zeuge einer bis ins Detail verplanten Inszenierung politischen Streits werden, und die aktiven Onliner, die die pedantische Regulierung durch Medien und Politik via Internet kritisieren und kontern werden. Trotzdem wird die womöglich freiere, weniger ritualisierte Debatte nicht live vor Publikum stattfinden, sondern "asynchron" im Web.

Auch online kann man filtern, verliert dann aber Glaubwürdigkeit

Mit der "vierten Debatte" greifen die Briten die Ansätze digitaler Debatten auf, die im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl 2008 entwickelt wurden. Im jüngsten Bundestagswahlkampf wurden solche "asynchronen Debatten" kaum realisiert, allein das Angebot "Erst fragen, dann wählen" des ZDF zielte offensiv in diese Richtung.

Bei der britischen "Facebook & YouTube Digital Debate" können interessierte Online-Bürger eigene Fragen an die Politiker richten, wahlweise in Textform oder als selbstproduziertes Kurzvideo. In der Woche vor der Wahl sollen Brown, Cameron und Clegg dann selbst mit Video-Statements von etwa einer Minute Dauer auf insgesamt zehn ausgewählte Fragen antworten. Auch hier lässt sich über eine Auswahl der passenden Fragen natürlich Ton und Inhalt der Debatte bestimmen - allerdings nur in Maßen, denn sonst leidet die Glaubwürdigkeit massiv. Das wissen auch Politiker, die alle schon ihre Erfahrungen gemacht haben mit den negativen Imageeffekten vorgetäuschter Interaktivität.

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Wahlkampf-Nebenwirkungen: Die Spott-Maschine

Richard Allan, "Director of Policy" bei Facebook, sieht in dieser zeitlich gebündelten, semi-direkten Kommunikation zwischen Bürger und Politiker eine zweite wichtige Innovation im britischen Medienwahlkampf - und eine wichtige Ergänzung zu den ebenfalls erstmals veranstalteten Fernsehdebatten: "Die Vorboten einer digitalen Wahl stellen einen Moment des Wandels für die Demokratie in Großbritannien dar. Durch die Möglichkeit, ihre politischen Spitzen durchleuchten zu können, nehmen die digitalen Debatten die Anliegen der Bürger Ernst und verleihen ihnen Einfluss. Das ist ein klarer Gegensatz zu den Beschränkungen der traditionellen Medien, die als nur Top-Down-Kanäle funktionieren."

Positioniert werden die Online-Debatten mit solch markigen Sprüchen als komplementär zum übermäßig regulierten TV-Format, für dessen Ablauf Verantwortliche aus Politik und Medien ein Konzeptpapier mit insgesamt 76 Unterpunkten entwickelt haben. Dem Publikum wird in der TV-Version der Debatten zwar einer fester Platz zugewiesen, doch werden die Bürgerfragen systematisch von journalistischen Kontrollgremien geprüft, bevor sie in der Live-Sendung "spontan" vor laufender Kamera gestellt werden.

Der Schwarm entscheidet mit, was wichtige Fragen sind

Tatsächlich ist die "Digital Debate" zunächst einmal als offenes Debattenformat gekennzeichnet, doch stellt auch hier der Selektionsmechanismus der Fragen einen Engpass dar und bietet Ansatzpunkte für Kritik. Bereits jetzt wurden in den fünf Kategorien "Wirtschaft", "Außenpolitik", "Recht und Gesetz", "Erziehung und Bildung" sowie "Verschiedenes" mehr als eintausend Fragen eingestellt. Beantwortet werden können aber jeweils nur die zwei populärsten Fragen in den einzelnen Themenfeldern. Als Bewertungswerkzeug kommt dabei der "Google Moderator" zum Einsatz, jene Plattform, die auch Barack Obama zur Organisation seiner "Digital Townhall Meetings" eingesetzt hat. Angemeldete Nutzer können die Fragen in einem einfachen Verfahren positiv oder negativ bewerten, aus der Zahl der Meinungen entsteht dann ein Ranking, das über den Zugang zur eigentlichen Debatte entscheidet.

Doch natürlich hat dieses System auch seine Tücken - einmal ganz abgesehen von willentlichen Manipulationsversuchen oder parteigebundenen Kampagnen, die durch gezielte Aktionen einzelne Fragen aufwerten und andere damit ausschließen könnten. Auch lassen sich ähnliche oder einen zusammenhängenden Fragenkomplex bildende Statements nicht zusammenfassen oder gruppieren.

Ein Problem werden könnte dies zum Beispiel bei den zahlreichen Fragen zum "Digital Economy Bill", dem umstrittenen Regelungspaket zum Umgang mit Urheberrechtsverletzungen im Netz. Eine Folge des Abstimmungsverfahrens könnte daher auch die Verengung der Online-Debatten auf Themen aus dem Bereich "Netzpolitik" sein. Schließlich gibt es auch Fragenbündel, die quer zu den vorgeschlagenen Kategorien liegen, eine "Verrechnung" der Bewertungen über Themengrenzen hinweg ist aber bislang nicht vorgesehen. Darüber hinaus dürften Video-Einreichungen einen gewissen Startvorteil gegenüber einfachen E-Mail-Fragen genießen - denn es ist davon auszugehen, dass multimediale Elemente auf Politiker und Veranstalter attraktiver wirken, weil sie in den "alten Massenmedien" höhere Aufmerksamkeit generieren.

Ganz sicher funktionieren wird die digitale Debatte jedoch als "Stimmungsbarometer", die Zahl der Fragen zu bestimmten Themenkomplexen und die Intensität der Bewertungen geben Hinweise darauf, was die britische Online-Öffentlichkeit am meisten bewegt. In der Kombination mit den TV-Debatten erweitert die Auseinandersetzung mit den Online-Fragen in jedem Fall das inhaltliche und formale Repertoire der Spitzenpolitiker - in ihren Statements werden sie jedoch nicht mit überraschenden Aussagen aufwarten. Dennoch darf man davon ausgehen, dass die Onliner genau darauf achten werden, ob die Spitzenkandidaten einen eigenen Online-Stil erkennen lassen oder die Videos nur als Fortsetzung des Fernsehens mit anderen Mitteln betrachten.

Auch wenn unklar sein mag, was Politiker mit dem neuen Debattenformat gewinnen können - es gibt in jedem Fall etwas zu verlieren. So hatte die Geringschätzung einer Videofrage zur Erderwärmung, die von einem animierten Schneemann gestellt wurde, den Republikaner Mitt Romney im Vorfeld der US-Wahl 2008 schlecht aussehen lassen. Und allein schon die Tatsache, dass die Videoantworten neues Material zur Weiterverarbeitung durch aktive Netzbürger generieren, sollte die Kampagnenteams daran hindern, das vermeintliche "Nebenformat" der britischen Debattenserie auf die leichte Schulter zu nehmen.

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