
mRNA-Technologie Die neue Weltmacht der Bio-Plattformen


Demnächst dann Bio-Apps für die Plattformen von Biontech und Moderna?
Foto: Christophe Morin / imago images/IP3pressWas die Digitalkonzerne angeht, hatten wir vor der Pandemie ein großes Plattform-Problem.
In postpandemischen Zeiten wird es allerdings kein großes Problem mehr sein. Sondern ein gigantisches. Corona hat die Plattformen im Netz größer und mächtiger gemacht, das hört man oft und es ist natürlich nicht ganz falsch. Amazon und Google sind machtvoller und reicher als je zuvor, chinesische Plattformen rollen das Feld von hinten auf, siehe TikTok.
Das Plattform-Prinzip ist das machtvollste Modell des 21. Jahrhunderts, ökonomisch, in der Kommunikation, gesellschaftlich. Plattformen sind eine Mischung aus technischem Betriebssystem eines Marktes, kommunikativem Marktplatz und wirtschaftlichem Ökosystem. Zentral für Plattformen ist, dass sie mit hoher Geschwindigkeit oder sogar in Echtzeit Datenströme verarbeiten können, um ihre Leistung zu verbessern. Das Plattform-Prinzip führt damit zu einem lernfähigen, weil datengetriebenen System, weshalb seine Macht mit dem Siegeszug der künstlichen Intelligenz (KI) noch zunehmen wird. Plattformen und KI sind füreinander geschaffen und sie sind, was den schieren Fortschritt angeht, ein unglaublicher Segen. Leider folgt insbesondere aus demokratischer Sicht ein großes »Aber«.
Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner hat dazu einen Debattenbeitrag zur Macht der Plattformen in Form eines offenen Briefes an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen veröffentlicht. Ich bin nicht in jeder Facette seiner Meinung, und ich habe oft geschrieben, dass Axel Springer aus meiner Sicht schlimme Digitalpolitik wie das Leistungsschutzrecht forciert hat.
Einen sehr wesentlichen Punkt trifft Döpfner aber: Die EU hat nicht die geringste Ahnung, wie man Plattformen richtig reguliert. Die EU hat dafür außerordentlich viel Erfahrung darin, wie man Plattformen falsch oder unzureichend reguliert. Mein Lieblingsbeispiel ist von Facebook und entstand im Rahmen der Datenschutzgrundverordnung DSGVO, die für sich genommen nicht grundsätzlich schlecht sein mag. Aber Facebook hat die rechtlich notwendige Zustimmung seiner Nutzerschaft 2018 mit einigen Pop-ups eingeholt. Und wenn man – ist ja alles kompliziert – auf »alles akzeptieren« geklickt hat, dann gab man gleichzeitig die Zustimmung zur Anwendung der Gesichtserkennungssoftware von Facebook. Jener Funktion also, die Facebook nach massiven Protesten im Jahr 2012 in Europa deaktiviert hatte.
Es wirkte wie ein Hohn, dass Facebook zum Anlass DSGVO die ungefähr überwachigste Technologie überhaupt durchgesetzt hat, wie ein Spottliedchen auf die stets bemühten Regulierungsversuche der EU. Nach zweieinhalb Jahren Datenschutzgrundverordnung sieht es nicht so aus, als seien Google und Facebook grundsätzlich in ihrer Datenradikalität erschüttert. Ihre Gewinne explodieren, ihre Macht ist auf einem Allzeithoch, ihre Steuerlast ist lächerlich.
Döpfners Artikel trägt seine Essenz im Titel: »Totale Transparenz endet immer totalitär«. Er verweist auf den sogenannten »Surveillance Capitalism«, den Überwachungskapitalismus. Auch wenn ich Döpfners Lösungsvorschlag, »die Speicherung aller persönlichen privaten sensiblen Daten« zu verbieten, nicht für zielführend oder auch nur für machbar halte – so muss die EU doch sehr, sehr dringend herausfinden, wie man Plattformen demokratisch im Zaum hält. Das ist essenziell, denn was Döpfner beschreibt, erscheint mir sogar nur als das Plattform-Problem von vor fünf Jahren. Nicht, dass insbesondere bei chinesischen Plattformen die Gefahr eines schleichenden Totalitarismus nicht vorhanden wäre. Aber das Problem ist eigentlich noch größer, und das hat uns die Pandemie en passant gezeigt. Nur anders, als viele glauben.
Denn für die nahe Zukunft lässt sich erkennen: Das Prinzip Plattform erhebt sich aus dem Netz und erobert andere Teile der Welt. Reißschwenk auf Corona und die dazugehörige Lösung, also die Impfung. Die beiden Biotech-Unternehmen Biontech und Moderna verwenden sogenannte mRNA-Impfstoffe, ein völlig neuer Typus Medikament. Präziser: Teil einer Bio-Plattform . Ja, tatsächlich.
Die ein oder andere mag sich gewundert haben, weshalb Moderna und Biontech eigentlich verschiedene Mittel gegen Krebs erforscht haben, aber offenbar in Windeseile irgendwie eine Impfung gegen Covid-19 geschnitzt haben. Krebs und Covid sind schließlich sehr verschiedene Krankheiten. Die Lösung liegt im Prinzip Plattform, übertragen auf die Biologie. Natürlich darf man diese Prozesse nicht als Eins-zu-eins-Übertragung aus dem Digitalen betrachten. Aber die Parallelen sind erstaunlich, die Konsequenzen ebenso. Es beginnt damit, dass DNA letztlich nur Daten sind. Die berühmten vier Buchstaben G, C, A und T, die Anfangsbuchstaben der Nukleinbasen, aus denen der DNA-Code besteht, entsprechen null und eins der digitalen Welt. Soweit, so hinlänglich bekannt. In der Folge lässt sich deshalb aber jedes biologische Problem als Datenproblem beschreiben, jede Krankheit als Bug, jeder biologische Wirkstoff als Algorithmus.
Um sich einen Eindruck von der Macht und vor allem der Geschwindigkeit der Bio-Plattform von Moderna zu verschaffen: Nach der Genom-Analyse des Virus hat es 48 Stunden gedauert, bis der heutige, finale Impfstoff fertig war. 48 Stunden. Die restliche Zeit verbrachte man mit Test- und Zulassungsroutinen.
Das Geheimnis ist, wie Moderna-CEO Stephane Bancel in einem Podcast erklärte, dass man die biologischen Wirkstoffe maschinell drucken kann, statt sie langwierig zu züchten. Dadurch lässt sich eine ungekannte Skalierbarkeit erreichen, auch das eine Parallele zur digitalen Welt. Die Produktionsvolumina sind kaum mehr durch Grenzen bei der Herstellung von mRNA beschränkt, sondern vielmehr durch noch zu verbessernde Technologien zur Produktion von Schutzhüllen, in denen der fragile genetische Code in den Körper gebracht werden kann.
Der Effekt von Biotech-Plattformen, so erklärt es Bancel, ist gewissermaßen eine Form von Industrialisierung: Die hintereinander geschalteten Roboter einer Maschinenfabrik können mit einer neuen Anleitung beinahe jedes Produkt herstellen: eben noch ein Präparat gegen Leukämie, jetzt schon den Covid-19 Impfstoff.
Es lässt sich absehen, wohin das Prinzip Bio-Plattform führt: Mithilfe künstlicher Intelligenz und Methoden wie etwa dem Botenmolekül mRNA wiederholen sich die technologischen und marktseitigen Entwicklungen der Digitalisierung in der Biologie. Allem voran die Individualisierung, also auf Einzelpersonen zugeschnittene Medikamente. Aber auch die Schaffung von wirtschaftlichen Ökosystemen, wo Bio-Apps, also speziell entwickelte Wirkstoffe, Modernas Plattform nutzen. Und nicht zuletzt die Mono- oder Duopolisierung: Gut möglich, dass Moderna und Biontech das Android und iOS der biologischen Zukunft werden. Aber auch Curevac beschäftigt sich seit Längerem mit mRNA als Plattformtechnologie. Das ist eine fabelhafte und begrüßenswerte Entwicklung, denn sie wird heute ungeahnte, biologische Wirkmechanismen hervorbringen. Schon jetzt lassen sich die mRNA-Impfstoffe gewissermaßen updaten, indem die Roboter ein paar Details verändern. Wir werden Medikamente erleben, bei denen biologische Plug-ins für besondere Zielgruppen wie Alte oder Schwangere zum Standard werden. Am Horizont sind via Analyse-App hyperindividualisierbare Biowirkstoffe zu erahnen, mit denen man sich selbst optimieren kann.
So großartig das ist und wird – umso größer wird leider die Hilflosigkeit der Politik im Umgang mit Plattformen. Der verbockte Impfstart der EU hängt auch damit zusammen, dass Plattformen eine Geschwindigkeit erreichen, die klassische Institutionen und ihre behäbigen Arbeitsabläufe nicht einmal im Notfallmodus abbilden können. Was das postpandemische Plattform-Problem angeht: Das Prinzip Plattform ist mächtiger als je zuvor und breitet sich weiter aus. Und wir wissen noch weniger als zuvor, wie wir, die liberalen Demokratien der Welt, die positiven Seiten nutzen können – was wir müssen – ohne die negativen unreguliert wuchern zu lassen.