Folgen der NSA-Affäre Wie Snowden das Netz verändert hat

"Meine größte Furcht ist, dass es nichts verändert", sagte Whistleblower Edward Snowden direkt in seinem ersten Interview . Er hatte gerade sein geregeltes Leben aufgegeben, als Preis dafür, die Überwachungspraxis der USA und ihrer Verbündeten ans Licht zu bringen. Gut ein Jahr ist das nun her.
Haben die Enthüllungen etwas verändert? Zum ersten Jahrestag klingen viele der Bilanzen ernüchternd: Der Einzige, der seinen Job verloren habe, sei Snowden selbst, schrieb diese Woche Sascha Lobo: Die Verantwortlichen machen einach weiter. Die Bürger würden am 5. Juni 2014 genauso ausgespäht wie ein Jahr zuvor, am Tag der ersten Enthüllung. "Zeit Online" beantwortet die Frage, ob Snowden die Welt verändert hat, gleich dreifach: mit "ja", "nein" und "mir egal".
Aber auch wenn sich politisch noch nicht viel getan hat : Zumindest im Kleinen haben die Snowden-Enthüllungen etwas verändert, im Alltag vieler Internetnutzer. Fünf Beobachtungen, ein Jahr nach den ersten Leaks:
1. Was früher als Paranoia galt, wird jetzt verstanden
Internetnutzer, die ihre Webcam abkleben? Leute, die ihr Smartphone verschlüsseln? Verhalten, das einst als übertrieben vorsichtig galt, wird seit den NSA-Enthüllungen nicht mehr belächelt. Solche Beobachtungen macht zum Beispiel der Grünen-Europapolitiker Jan Philipp Albrecht. "Die Enthüllungen haben auf die Gefahren und Realitäten der Überwachung aufmerksam gemacht", sagt er. "Selbst Leute, denen Themen wie Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vorher gleichgültig waren, fragen sich jetzt, ob es nicht doch sinnvoll ist, sich damit auseinanderzusetzen."
Eine Twitter-Umfrage mit dem Hashtag #SeitSnowden ließ kürzlich eine ähnliche Tendenz erkennen. "Seit Snowden muss ich mich nicht mehr dafür rechtfertigen, keine Mails mit Gmail-Nutzer_innen auszutauschen", schrieb damals Bloggerin und Netzaktivistin Anne Roth . Die ehemalige Piratenpartei-Geschäftsführerin Katharina Nocun twitterte : "Seit Snowden fragen mich Freunde, ob ich ihnen Verschlüsselung erklären kann. Und fragen nicht mehr, warum ich nicht bei Facebook bin."
2. Es wird mehr verschlüsselt als vor Snowden
Nach wie vor wird im Netz nur ein geringer Teil des Datenverkehrs verschlüsselt - doch es wird langsam mehr. In Europa beispielsweise hat sich der verschlüsselte Verkehr binnen eines Jahres vervierfacht, berichtet der Netzwerkanbieter Sandvine . Statt 1,5 Prozent beträgt sein Anteil jetzt 6,1 Prozent. Immerhin.
Einerseits liegt das an den großen Internetkonzernen: Firmen wie Google, Facebook und Yahoo haben seit den Enthüllungen öffentlichkeitswirksam ihre Sicherheitsstandards erhöht. Gleichzeitig scheinen aber auch Privatnutzer gewillter, das Abhören ihrer Kommunikation zu erschweren. Eine Umfrage des Branchenverbands Bitkom ergab Ende 2013 , dass 5 Millionen Deutsche eine E-Mail-Verschlüsselungssoftware verwenden. Im Juli waren es erst 3,3 Millionen.
3. Die Skepsis gegenüber Online-Speichern steigt
In den vergangenen Monaten las man immer wieder, dass viele Nutzer US-Diensten den Rücken kehren. Den Worten scheinen jedoch selten Taten gefolgt zu sein. In der Praxis habe es keine massive Verschiebung bei den Verbrauchern gegeben, schreibt etwa Mikko Hyppönen von F-Secure. Anders sehe es bei Unternehmen aus. Sie würden ihre Daten in größerem Stil weg von den US-Clouds verlagern.
Virenanalyst Dirk Kollberg von Kaspersky hat den Eindruck, dass das Thema IT-Sicherheit in der Wirtschaft stärker beachtet wird als noch vor einem Jahr. "Die Gefahr von Cyber-Angriffen ist seit den Enthüllungen bis in die Chefetagen präsent", sagt er. "Vorher war das etwas, das nur Systemadministratoren beschäftigt hat."
Unterschiedliche Meinungen gibt es dazu, ob europäische Firmen indirekt von den Enthüllungen profitieren. Bitkom-Geschäftsführer Bernhard Rohleder glaubt nicht, dass ein Standort in Europa pauschal ein Wettbewerbsvorteil ist. "Der Markt ist insgesamt belastet", sagt er, auch mit Blick auf Privatnutzer. "Wer jetzt keine amerikanischen Dienste mehr nutzt, der geht nicht automatisch zu den deutschen Unternehmen, sondern hält sich oft auch ganz zurück."
4. Neue Programme sollen auch vor dem Staat schützen
"NSA-proof", "NSA-sicher": Derartige Adjektive liest man derzeit häufig, wenn neue Produkte angekündigt werden. Diente Schutzsoftware lange Jahre in erster Linie dem Schutz vor Internetbetrügern und Hackern, gibt es mittlerweile Programme, die explizit das Ziel haben, den Nutzer vor der Überwachung durch fremde Regierungen oder die eigene zu bewahren. So kündigte unter anderem Entwickler John McAfee ein Anti-NSA-Gadget an.
Und auch in Deutschland scheint es in Sachen Internet großes Misstrauen gegen den Staat zu geben. Erst diese Woche erschien eine neue Bitkom-Studie, derzufolge knapp neun von zehn Deutschen ihre Daten online nicht für sicher halten. Bei staatlichen Stellen hatten 71 Prozent der Befragten ein schlechtes Gefühl, wenn es um den Umgang mit persönlichen Daten geht. 2011 waren es nur 46 Prozent.
5. Die Menschen sind vorsichtiger im Netz
Das Internet ist zu vielfältig, als dass sich verallgemeinern ließe, welche Auswirkungen die NSA-Affäre auf die Kommunikationsinhalte hat. Doch in ihrem Netzausschnitt haben viele Nutzer Veränderungen erlebt - und sei es, dass in Forendiskussionen neben Hitlervergleichen nun öfter NSA-Anspielungen kommen. Kaspersky-Analyst Kollberg ist aufgefallen, dass seine Facebook-Freunde weniger Privatfotos veröffentlichen. "Die Leute sind vorsichtiger unterwegs", sagt er.
Grünen-Politiker Albrecht glaubt, die Überwachung könnte Internetnutzer auch unbewusst beeinflussen, durch "ein bisschen Schere im Kopf": "Mancher Nutzer überlegt sich heute vielleicht öfter, ob er einen bestimmten Begriff googelt oder einen bestimmten Artikel aufruft."
Manche Unterhaltung findet mittlerweile auch gar nicht mehr im Netz statt. "Guardian"-Journalist James Ball etwa schätzt, vergangenes Jahr 130.000 Meilen geflogen zu sein. Nach den Enthüllungen habe er viele Dinge lieber persönlich besprochen als auf technischem Weg , erzählte er bei einer Gesprächsrunde.
Das vielleicht treffendste Fazit zur NSA-Affäre fand sich aber kürzlich in der IT-Fachzeitschrift "c't". Dort hieß es in einem Bericht zur Internet-Konferenz re:publica : "Vor Snowden war's irgendwie witziger."