Politcamp in Berlin Twitter-Ministerin trifft das Netzvolk

Die Netzgemeinde fühlt sich unverstanden von der Politik, bedroht von Regulierung und Bevormundung. Am Wochenende trifft sich die Internetgeneration auf dem Politcamp - und lernt Abgeordnete kennen, die genauso denken.
Twitter-Humor beim Politcamp 2010 (pc10): Ministerin Schröder heißt bei Twitter noch Köhler

Twitter-Humor beim Politcamp 2010 (pc10): Ministerin Schröder heißt bei Twitter noch Köhler

Foto: ddp

Berlin - Kristina Schröder lächelt. "Miese Unterstellungen" habe es gegeben, sagt die Familienministerin, auf beiden Seiten. Die Rede ist vom Streit um das vermurkste Sperrgesetz gegen Kinderpornografie, Werk ihrer Vorgängerin Ursula von der Leyen (CDU). "Mies", sie tadelt Politik und Publikum gleichermaßen. Mit drei Abgeordneten, einem Staatssekretär und zwei Journalisten soll sie diskutieren, wie Netzgemeinde und Politik endlich zusammenkommen.

Rund 900 Teilnehmer haben sich zum Politcamp  in Berlin in einem alten, zum Veranstaltungszentrum umgebauten Pumpwerk an der Spree namens Radialsystem V angemeldet. Mehr als ein Dutzend Abgeordnete aus Bundestag und Europaparlament sind hier, Politiker aller Fraktionen, Parteinachwuchs - und vor allem Netzaktivisten.

Die sind aufgebracht: Zehntausende zogen vergangenen Sommer durch Berlin, beschwerten sich vor dem Bundesverfassungsgericht, mehr als hunderttausend reichten eine Petition beim Bundestag ein. Nach Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren wehren sie sich nun gegen überzogenen Jugendschutz per Staatsvertrag und "Elena"-Sozialdatenbank.

Ministerin startet Charme-Offensive

Spätestens seitdem die Piratenpartei bei der Bundestagswahl zwei Prozent der Stimmen bekam, sind die etablierten Parteien aufgewacht. Nun distanzieren sich Politiker von den Netzsperren, die Ursula von der Leyen als Ministerin so dringend wollte, und die gegen Expertenrat vom Parlament eiligst verabschiedet wurden. Die Politik entdeckt nach Jahren im Dämmerzustand das Internet.

CDU-Ministerin Schröder hat eine regelrechte Charme-Offensive gestartet: Ihr Haus fördert das Politcamp, noch am Abend gibt es auf der Ministeriumswebsite ein Video , in dem sie Diskussion und Veranstaltung lobt: "Wir brauchen den Dialog über Netzpolitik." Ihr Auftritt wird auf Twitter kommentiert, sie selber hat auch einen Account - noch unter ihrem früheren Namen Kristina Köhler. Sie will "gleich erstmal die Replies lesen". Einige freuen sich über ihre offenen Worte, andere beklagen, das sei doch wieder nur "heiße Luft".

Die Nachrichten werden auf eine Leinwand hinter dem Podium projiziert, das Publikum kommentiert in Echtzeit. Auch nützliche Tipps laufen über den Ticker: Club-Mate, die in der Szene obligatorische herbe Brause mit viel Koffein, gibt es nur in kleinen Flaschen für 2,80 Euro. Doch eine Tankstelle in der Nähe soll 0,5-Liter-Flaschen für weniger als die Hälfte anbieten - aufgrund des dichtgepackten Programms ein willkommenes Angebot.

"Ctrl"-Taste am Hemd

Fünf Veranstaltungen laufen bis zum Abend parallel im Radialsystem, jede dauert eine Stunde. Es wird diskutiert über Flashmobs im Wahlkampf, über Datenschutz als Ideologie und über Whistleblowing. Vor dem Gebäude unterhält sich der FDP-Abgeordnete Jimmy Schulz mit einer Gruppe Piraten, sie rauchen und ärgern sich über Internet-Unverständnis in der Politik. Sie sind sich einig, da hätte Schulz seine Manschettenknöpfe in Form von Computertasten gar nicht anlegen müssen: auf der einen Seite "Ctrl", auf der anderen Seite "Esc". Passt eigentlich: Soll die Politik das Netz zu kontrollieren versuchen, sich einmischen, oder lieber abhauen, sich verdrücken?

Mit dem CDU-Abgeordneten Thomas Jarzombek spricht Schulz über Politik in sozialen Netzwerken, ganz konkret. Gleichzeitig berät eine Runde mit SPD-Nachwuchshoffnung Björn Böhning über die Rentenerwartung der digitalen Boheme (keine) und die Arbeitsverhältnisse von Freelancern (schlecht). Lösungen fehlen, "Gewerkschaft ist old school, aber vielleicht eine gute Idee", fällt einer Journalistin ein.

Sperren und Speichern

Vergangene Online-Wahlkämpfe werden bilanziert und nach der Macht von Konzernen gefragt, die zunehmend Inhalte und Netzzugang gleichermaßen anbieten und ihren Daten Vorrang im Netz gewähren wollen. Netzpolitik-Blogger Markus Beckedahl erklärt, nachdem er einen bereits schlafenden Politcamp-Teilnehmer auf dem Weg zur Bühne wecken musste, in einem atemlosen Vortrag, was Netzneutralität bedeutet und warum Rechteverwalter und Netzbetreiber dagegen sind.

Der Staat sperrt und speichert, Politiker schüren Angst vor Googles deutschlandweiten Straßenfotos, Jugendliche füttern ganz selbstverständlich persönliche Daten in soziale Netzwerke. Manche Politiker aber, darunter viele junge Mitglieder der gerade eingesetzten Web-Enquete, diskutieren mit Internetexperten auf Augenhöhe. Eine Gruppe Jugendlicher startet eine Kampagne zum Schutz der eigenen Privatsphäre im Netz. Die Lage ist unübersichtlich, es gibt noch einiges zu besprechen.

Die Teilnehmer wollen sich einmischen, wollen mitbestimmten und Netzpolitik nicht den Parteien überlassen. "Wir sind hier und wollen diskutieren", preist Familienministerin Schröder die Dialogbereitschaft der Politik. Grünen-Politiker Volker Beck, der mit ihr auf dem Podium sitzt, ist etwas vorsichtiger: "Heute hören wir euch zu, aber wir können nicht den ganzen Tag irgendwelche Posts lesen."

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