Protestbewegungen Enzensberger entdeckte den Flashmob

Hans Magnus Enzensberger: "Eine soziale Erfindung ersten Ranges"
Foto: Bernd Settnik/ picture-alliance/ ZBDie Piraten bringen Europas politische Kultur durcheinander. Genau genommen handelte es sich dabei ursprünglich um drei unabhängig voneinander operierende Organisationen, alle drei gegründet in Schweden: erstens die Tauschbörse The Pirate Bay. Zweitens die Piratenpartei, die bei den Europawahlen in Schweden auf 7,1 Prozent der Stimmen kam. Und drittens das Intellektuellendiskussionsforum "Piratbyrån" (Piratenbüro), aus dem die beiden anderen Freibeuter-Beiboote hervorgegangen sind.
Auf der Ars Electronica, dem wichtigsten Medienfestival Europas, soll das Piratenbüro am 4. September in Linz ausgezeichnet werden: Mit dem Prix Ars Electronica in der Kategorie "Digital Communities", dotiert mit 5000 Euro. Hierzulande ziehen jetzt die ersten Piraten in Stadträte ein - und die deutsche Piratenpartei will sogar in den Bundestag.
Doch wie kam es zu dieser eigenartigen Dreifaltigkeit der skandinavischen Protestkultur? Die schwedische Jugend geht nicht auf die Straße, sie geht ins Internet, lautet ein Kalauer. "Die schwedische Gesellschaft betet den Konsens an", schreibt der Essayist und Literat Hans Magnus Enzensberger, auch bekannt als "HME". Wie also gehen diese beiden widersprüchlichen Impulse zusammen: Die angebliche Anbetung des Konsens und die Entstehung einer Internetprotestbewegung?
Enzensberger bietet eine überraschende Antwort an. Er hat so etwas wie die Früh- und Vorgeschichte des Piratenphänomens beschrieben. Und zwar schon 1987 in seinem Essayband "Ach Europa!". Sogar die bevorstehende Preisverleihung an das Piratenbüro hat er darin vorweggenommen. Aber beginnen wir einfach am Anfang.
"Gewöhnliche Jugendliche, keine organisierten Motorrad-Gangs"
Es war einmal, vor langer langer Zeit, an einem schönen Herbstabend im September 1982: Ein Dutzend Schüler trafen sich am Friedhelmsplan in Stockholm, "ganz gewöhnliche Jugendliche, keine organisierten Motorrad-Gangs", schreibt Enzensberger im ersten Kapitel unter dem Titel "Schwedischer Herbst":
"Immer neue Ankömmlinge tauchten aus den Tiefen der Tunnelbahn auf. Niemand wusste, woher sie kamen und was sie vorhatten. Es gab nichts, wofür oder wogegen sie demonstriert hätten. Sie waren einfach da, standen in lockeren Gruppen herum und unterhielten sich miteinander. Als die Menge bis auf beinah tausend Köpfe angeschwollen war, setzte sie sich ohne Marschordnung, ohne Parolen, ohne vorgefassten Plan in Richtung Ralambshovspark in Bewegung."
Heutzutage würde man das als Flashmob bezeichnen. Damals gab es den Terminus noch nicht und auch keine Mobiltelefone. Aber es gab eine Polizeistaffel, die sogleich vor Ort auftauchte, wie Enzensberger schreibt:
"Die Polizei war nach einer halben Stunde zur Stelle, ein Aufgebot von über 50 Mann, mit Bereitschaftswagen, Schlagstöcken und scharfen Hunden. Im Nu verwandelte sich die friedliche Szene in ein bedrohliches Gegeneinander. Die Einsatzleitung hatte es darauf abgesehen, die Jugendlichen auseinanderzutreiben. Die Polizisten schlugen auf einzelne Leute ein, die Hunde wurden unruhig, es gab Beulen und zerrissene Kleider. Dann flogen die ersten Steine. Nach drei Stunden lag der nächtliche Park wieder still und menschenleer da."
Was steckte hinter dem geisterhaften Flashmob? "Eine soziale Erfindung ersten Ranges", schreibt Enzensberger:
"Ein paar kluge Kids hatten entdeckt, dass das öffentliche Telefonnetz eine interessante technische Lücke aufwies: Wer die Nummern einer gewissen Zahl von gesperrten Anschlüssen wählte, konnte mit jedem anderen Teilnehmer sprechen, der das Gleiche tat. Die betreffenden Telefonnummern gingen an den Stockholmer Schulen wie ein Lauffeuer um, und es entstand ein enorme, spontane Konferenzschaltung. Ein neues Massenmedium war geboren: der 'heiße Draht'. Intelligenter kann man moderne Kommunikationstechniken kaum verwenden."
Wie ging es weiter? "Kaum waren die Beulen verheilt, die Jeans geflickt", so Enzensberger, "mischte sich die entsprechende Instanz mit dem Angebot ein, den 'heißen Draht' zu institutionalisieren."
"Erst der Knüppel, dann die Mohrrübe"
Das Angebot: eine eigene Telefonnummer für Gruppengespräche, bei der "jeweils fünf Personen für die Dauer von je fünf Minuten" chatten konnten. "Die Logik der staatlichen Intervention ist vollkommen klar", so Enzensberger, "erst der Knüppel, dann die Mohrrübe. Die soziale Phantasie der Jugendlichen, ihre Selbsttätigkeit soll in einer Art Zangenbewegung erstickt werden: einerseits durch Unterdrückung, andererseits durch Verstaatlichung."
Es sei etwas faul im Lande Schweden, dem Inbegriff des wohlwollenden Sozialstaats, so Enzensberger damals. "Ich habe den Eindruck, dass sie ihr Selbstverständnis aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus herleiten". HME weiter: "Sie glauben im Namen nicht nur ihrer Institution, sondern im Namen der ganzen Gesellschaft sprechen und handeln zu können. In ihren Äußerungen kehren immer wieder bezeichnende Sätze wieder: 'Hier muss die Gesellschaft eingreifen.' 'Das kann die Gesellschaft nicht zulassen.' 'Darum muss sich die Gesellschaft kümmern.'"
HME entwickelt eine Denkfigur, die nichts an Aktualität eingebüßt hat, den Staat als "guten Hirten": "Der gute Hirte ist, da er stets das Beste will, immer der Überzeugung, im Recht zu sein. Zur Besserwisserei fühlt er sich geradezu verpflichtet. Wenn er auf Kritik stößt, macht er zwar hie und da einen taktischen Rückzieher, aber an seinem Hintergedanken hält er unbeirrt fest, und er ist und bleibt entschlossen, ihn das nächste Mal, an anderer Stelle, durchzusetzen."
Und weiter: "Es ist schwer, ein Urteil über den guten Hirten zu fällen. Das liegt an der Zweideutigkeit seines Wirkens. Er bietet einen Service , einen Grad an Daseinsfürsorge, der beispiellos ist; aber er übt auch einen 'weichen Terror' aus, der mich erschreckt. Wenn er - natürlich in bester Absicht - Kinder entführt, Journalisten einsperrt und scharfe Hunde auf Jugendliche hetzt, dann ist es leicht, sich über ihn zu entrüsten; wenn er kostenlose Rollstühle verschreibt und den Frauen gleiches Recht am Arbeitsplatz verschafft, erntet er Beifall. Vielleicht ist es gar nicht möglich, ihm objektiv gerecht zu werden. Vielleicht ist man entweder guter Hirte, oder man ist es nicht."
Kulturpreis für die "unbekannten Entdecker des 'heißen Drahtes'"?
Enzensberger positionierte sich damals getreu seiner Rolle als Enfant terrible auf Seiten der schwedischen Jugendbewegung und forderte ebenso geistreich wie provokant: "Ich weiß nicht, ob es einen Kulturpreis der Stadt Stockholm gibt. Falls ja, dann haben ihn die unbekannten Entdecker des 'heißen Drahtes' eher verdient als alle aufstrebenden Aktionskünstler des Königreichs. Das sollten sogar die gutbezahlten Experten einsehen, die das Publikum seit Jahrzehnten mit ihren sorgenvollen Auslassungen über die Ziellosigkeit, die Motivationsschwäche und die Anomie der heutigen Jugend langweilen."
Das schrieb Enzensberger im Jahre 1987.
Die Parallelen zwischen dem Telefonprotest und der heutigen Dreifaltigkeit aus Piratenbüro, Pirate Bay und Piratenpartei drängen sich geradezu auf. Auch das Bild des "guten Hirten" lässt sich unschwer übertragen auf die Haltung der Politik bei Themen wie Tauschbörsen und Internetsperren. Die Parallelen gehen weiter: Enzensbergers alter Freund, der schwedische Romanautor Lars Gustafsson, hat sich öffentlich dazu bekannt, die Piratenpartei zu wählen, die gegen überzogene Urheberrechte eintritt.
Was also sagt HME selbst heute zur Debatte um Internettauschbörsen?
"Der Streit um das Urheberrecht ist doch mittlerweile zu einem Glaubenskrieg zwischen Rechteinhabern und Bloggern ausgeartet", sagt Enzensberger trocken am Telefon, "ich mische mich da nicht ein. Ich mag das nicht, wenn auf beiden Seiten derartig verzarzte Positionen dominieren." Doch generell wundere er sich über die Kostenlos-Mentalität einiger Nutzer: "Keiner würde in den Bäckerladen gehen und fordern: 'Gib uns mal deine Brötchen - aber kostenlos."