
Razzia gegen »Letzte Generation« Vorauseilende Staatsradikalität


Straßenblockade in Berlin
Foto: JONAS GEHRING / aal.photo / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Es ist nicht so, dass ich der »Letzten Generation« besonders viel Positives abgewinnen könnte. Im Gegenteil, ich halte die Gruppierung für ausgesprochen schwierig, in vielerlei Hinsicht, was die Düsterkeit der Welthaltung angeht, was die Wirkung auf die Gesellschaft angeht, was die Diskrepanz zwischen Aktionen und dem erklärten Ziel der Bewegung angeht. Meine eher ablehnende Haltung kommt nicht plötzlich, ich habe darüber schon öfter geschrieben und gesprochen . Aber die Art, wie der Staat, der Justiz- und Exekutivapparat, Teile der Presse und auch der Bevölkerung mit den Protestierenden der »Letzten Generation« umgehen, ist nichts weniger als katastrophal. Und zwar insbesondere in demokratischer, aber auch gesellschaftlicher Hinsicht.
Eine bundesweite Razzia hat stattgefunden mit der Begründung, es liege ein Anfangsverdacht für eine kriminelle Vereinigung vor. Das hört sich erst mal plausibel an – wenn man sowohl die juristischen Definitionen wie auch die gesellschaftliche Situation komplett ausblendet. Denn natürlich verabreden sich die Leute der »Letzten Generation« dazu, mit ihren Aktionen Gesetze zu übertreten. Aber der Begriff einer kriminellen Vereinigung ist viel, viel größer und gewichtiger, weil dazu noch eine »Erheblichkeitsschwelle« überschritten sein muss, wie der ZDF-Rechtsexperte Jan Henrich erklärt .
Das entsprechende Gesetz dient eigentlich zur Einordnung von mafiösen oder terroristischen Strukturen. Wenn man sich dazu verabredet, falsch zu parken, bildet man selbst beim schlechtesten Willen keine kriminelle Vereinigung. Aber gut – selbst darüber könnte man vielleicht diskutieren, da es vereinzelt Pläne gegeben haben soll, eine Pipeline und eine Raffinerie zu »sabotieren« (was ein recht dehnbarer Begriff ist).
Dann aber ist anlässlich der aktuellen Razzia etwas staatsübergriffig Grenzüberschreitendes geschehen: Die Website der »Letzten Generation« wurde abgeschaltet . Das liest sich für manche vielleicht auf den ersten Blick harmlos. Faktisch aber ist es ein absichtsvoller Stich ins Herz der Demokratie, nämlich der offenen Debatte. Es kommt sehr, sehr selten vor, dass bei solcher Art Ermittlungen eine Website abgeschaltet wird.
Bisher wird diese Maßnahme eigentlich nur angewendet, wenn die Website das Herzstück der Illegalität bildet, etwa bei illegalen Tauschbörsen oder Online-Drogenhandel. Die falsche Radikalität dieser Maßnahme gegen die »Letzte Generation« wird besonders im Kontrast deutlich: Bei Razzien gegen Islamisten dagegen findet eine Website-Abschaltung nicht regelmäßig statt. Ebenso wenig bei »Reichsbürgern« oder QAnon-Anhängern. Obwohl diese Gruppierungen inzwischen mehrere Ermordete verantworten, sind sogar noch Seiten online, auf denen man seine »Reichsdokumente« beantragen kann.
Die Website der »Letzten Generation« leitet inzwischen um auf den Twitteraccount, was wahrscheinlich auf das Eingreifen der Admins der Bewegung zurückzuführen ist. Aber die bayerische Polizei hat ganz offenbar das Sperrschild schon einmal vorbereitet, und zwar inklusive der eigentlich nur gerichtlich möglichen Feststellung, dass die »Letzte Generation« eine kriminelle Vereinbarung sei. Das ist vorauseilende Staatsradikalität. (Ein Sprecher des bayerischen Landeskriminalamts bestätigte am Nachmittag dem SPIEGEL die Echtheit der Aufnahme. Demnach war die Warnung »kurzzeitig« online zu sehen, sei aber mittlerweile geändert worden.)
Zensurvorwürfe nicht von der Hand zu weisen
Was die Abschaltung der Website angeht, müssten sich jetzt eigentlich die üblichen Stimmen laut und wütend über »Cancel Culture« beschweren. Eigentlich müssten empörte »Zensur!«-Rufe erschallen, von denen, die genau das schon oft und oft in die Welt hinausgeschrien haben, bei jedem noch so nichtigen, abseitigen oder unberechtigten Anlass. Aber die Chance, dass das geschieht, ist gering, weil die Grenzüberschreitung nicht als rechts oder konservativ wahrgenommen wird, sondern als irgendwie diffus links. Dabei könnte man die staatliche Abschaltung des zentralen Kommunikationsinstruments durchaus als Zensur bezeichnen. Erst recht, wenn es im Moment noch um Verdachtsmomente geht.
Man hätte im Zweifel auch die Spendenfunktion der Website einfrieren lassen können, und sei es per Kontenbeschlagnahme. Aber auf diese Weise wirkt die Abschaltung wie ein Mittel des Eingriffs in die öffentliche Diskussion. Wieder der direkte Kontrast: eine Reihe von Websites von laut Verfassungsschutz »gesichert rechtsextremen« und staats- wie verfassungsfeindlichen Bewegungen und Vereinigungen sind nach wie vor online, nicht selten inklusive der Möglichkeit zu spenden.
Diese Unverhältnismäßigkeit, mit Atomkanonen auf Spatzen zu schießen, ähnelt leider einem auch in der Bevölkerung verbreiteten Muster. Immer wieder kursieren Videos von extrem aggressiven, gewalttätigen Übergriffen von autofahrenden Männern gegen die Protestierenden. Diese inzwischen zahlreichen dokumentierten Attacken müssen mit der vollen Härte des Gesetzes geahndet werden, aber leider scheint sich die Politik zu einem relevanten Teil entschlossen zu haben, diese Gewalt gegen Protestierende zu ignorieren.
Politik bekämpft die Gewalt nicht
Anders ist nicht zu erklären, dass Bundeskanzler Olaf Scholz öffentlich sagt, er halte die Aktionen für »völlig bekloppt« . Meine Worte wären andere, inhaltlich würde ich Scholz in der Tendenz zustimmen – aber wenn ein Bundeskanzler so etwas so flapsig und auch einseitig formuliert, bildet das nicht gerade eine Brandmauer wider die Spontangewalt von Autofahrern gegen die Klebe-Community. Es kann schlicht beides gleichzeitig wahr sein: Nämlich, dass die Aktionen der »Letzten Generation« klimapolitisch kontraproduktiv sind und viele Reaktionen darauf gefährlich und bekämpfenswert.
Die Razzia und ihre übertriebenen Ausläufer wie die Website-Abschaltung greifen leider unterstützend in eine gefährliche Entwicklung ein: die ohnehin spürbare Radikalisierung der »Letzten Generation«. Das mag zunächst wie ein Gegensatz wirken, von Radikalisierung zu sprechen, aber die Einschätzung als »kriminelle Vereinigung« für unverhältnismäßig zu halten. Es ist aber kein Gegensatz, sondern eine logische Folge der Verfasstheit der Bewegung. Denn die Radikalisierung der »Letzten Generation« ist nicht mit Gewalt, sondern weit überwiegend mit Selbstaufopferung verbunden.
Aktivisten pochen auf Gewaltlosigkeit
Die größte Gefahr scheint deshalb eher zu sein, dass sich irgendwann jemand von der »Letzten Generation« selbst anzündet oder auf andere Weise aufmerksamkeitsstark tötet, als dass echte, terroristische Handlungen gegen Dritte unternommen werden. Alle Kommunikation der Bewegung, auch die in sozialen Medien nach der Razzia erkennbare, deutet nicht bloß auf nachvollziehbare Wut hin, sondern auf eine tiefe, ausweglos scheinende Verzweiflung. Man muss an dieser Stelle erwähnen, wie offensiv die »Letzte Generation« trotz ihrer aus meiner Sicht enormen Knalltütigkeit auf Gewaltlosigkeit pocht und diese auch praktiziert. Es ist eben nicht so, als kursierten Hunderte Videos, in denen sich die Aktivist*innen gegen die gewalttätigen Autofahrer auch nur wehren, geschweige denn, zurückschlagen würden.
Der Kern meiner Kritik an der »Letzten Generation« betrifft deshalb weder die Ziele noch die Protestaktionen, auch wenn ich sie eben für kontraproduktiv und unklug halte. Aber die Bewegung vermittelt jungen Menschen eine derart tiefe und darke und schwarz-weiße Hoffnungslosigkeit, dass praktisch alles außer einem umfassenden Sofortsieg auf ganzer Linie als vernichtende Niederlage interpretiert werden muss. Kommunikationspsychologisch wirkt das zwar motivierend und aktivierend auf die Mitglieder. Der Preis ist nicht nur, dass sinnvolle, aber kleine Fortschritte für egal gehalten werden. Sondern auch die Bereitschaft, fast jede Grenze zu überschreiten – das Wesen der Radikalisierung. Und in eine solche Situation hinein verhalten sich ein paar Organe des Staates, als wollten sie genau dies provozieren. Noch dazu mit rechtsstaatlich sehr fragwürdigen Mitteln wie der Website-Abschaltung. Das ist unverantwortlich und strukturell gefährlicher als die »Letzte Generation«.