Daten und Migration Wie Flüchtlingsbewegungen mit Social Media vorhersagbar sind
Wenn die Preise für Ziegen fallen, deutet das auf Fluchtpläne hin: Zumindest in Somalia macht es sich offenbar schnell auf dem Markt bemerkbar, wenn Familien von jetzt auf gleich Dutzende Tiere verkaufen - bevor sie ihr Zuhause verlassen.
"Als die Menschen angefangen haben, 50, 60 Ziegen auf einmal loszuwerden, wurden die Preise gedrückt, und wir hatten ein Indiz, dass die Leute planen zu fliehen", sagt Andrew Harper vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bei der Netzkonferenz re:publica. Auch steigende Preise von Gütern wie Wasserkanistern, die Menschen bei ihrer Flucht nützlich sind, können Harper zufolge bei der Analyse von Fluchtbewegungen helfen.
Humanitäre Organisationen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk experimentieren mit Datenanalysen, um Trends vorherzusagen. Bisher würden die Flüchtlingshelfer vor allem auf ausbrechende Krisen reagieren, so Harper. Vorausschauende Datenanalysen könnten helfen, Ressourcen, Personal und Einrichtungen wie Flüchtlingscamps frühzeitig vorzubereiten und Engpässe zu verhindern. Andrew Harper ist Director of Program Support & Management, zuvor leitete er das Innovationsteam beim UN-Flüchtlingshilfswerk.
Stimmungsanalyse auf Twitter
In Venezuela haben Zehntausende Menschen angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise das Land verlassen, allein nach Kolumbien sind mehr als eine Million Venezolaner geflohen - größere Flüchtlingsbewegungen deuteten sich auch hier in sozialen Netzwerken an.
Das Innovationsteam des UN-Flüchtlingshilfswerks hat etwa mit Algorithmen Twitter durchforstet und mit einer sogenannten Sentiment Analysis, einer Stimmungsanalyse, nach häufig auftauchenden Schlüsselwörtern und negativen Gefühlsäußerungen wie Angst gesucht, die Fluchtabsichten andeuten.
"Wir haben ein halbes Jahr, bevor die große Bewegung in Venezuela losgegangen ist, gesehen, dass diese Begriffe in die Höhe schießen", sagt Harper. Auch, inwieweit etwa fremdenfeindliche Stimmungen weltweit zunehmen, wertet das UN-Flüchtlingshilfswerk aus. Es kommt dabei immer auf die Datenlage und die Nutzungsgewohnheiten im jeweiligen Land an, welche Plattformen oder Indikatoren sich zur Analyse eignen.
Schmuggleranzeigen und Wellenhöhen
Flucht ist zudem nicht gleich Flucht. Für das UN-Flüchtlingshilfswerk ist es auch wichtig zu wissen, ob Menschen bereits mehrfach vertrieben worden sind oder wie viel Hoffnung sie auf eine Rückkehr haben.
"In den ersten Jahren des Syrienkonflikts sind alle davon ausgegangen, dass alle Syrer nach Europa kommen, aber bei den meisten Vertreibungen zogen Menschen nur bis zu drei Kilometer weiter, weil sie nirgendwo anders hingehen wollten", sagt Harper. "Zu Familien oder Freunden etwa, und dann sind sie wieder zurück nach Hause gegangen. Erst, wenn Menschen keine Chance mehr sehen, werden sie weiterziehen."
Eine Landesgrenze zu überwinden, bedeutet Harper zufolge psychologisch einen drastischen Schritt. Eine Rückkehr sei dann auch aus Sicherheitsgründen schwierig, gibt er zu bedenken - meistens gehe es fortan nur noch darum, weiterzukommen.
Wie die Menschen sich fortbewegen und wie viele Geflüchtete sich etwa an Knotenpunkten am Mittelmeer sammeln werden oder an bestimmten Tagen ein Boot nehmen wollen, kann anhand von Datenanalysen abgeschätzt werden - dafür werden etwa Wettervorschauen, Wellenhöhen oder Schmuggelkosten analysiert.
"Mit Social Media sind auch Schmuggelrouten ziemlich transparent geworden", so Harper, "Schmuggler bewerben ihre Dienste online." Anfangs konnten die Datenanalysten beobachten, dass die Preise trotz steigender Nachfrage sanken - weil die Geflüchteten sich mit Crowdsourcing beim Handeln unterstützten, sich über soziale Netzwerke und Messenger darüber austauschten, welche Preise Schmuggler üblicherweise nehmen. Oder welche Anbieter regelmäßig betrügen.
Partner und Daten vernetzen
Für die Auswertungen setzt das UN-Flüchtlingshilfswerk, dessen Innovationsteam etwa zehn Mitarbeiter hat, vor allem auf Open-Source-Software - und auf die Partnerschaft mit anderen Organisationen, die Daten zu Trends erheben, die Migration beeinflussen.
"Wir müssen am Beginn des Kreislaufs ansetzen, uns fragen, wohin die Fragilität führen wird", so Harper. "Wenn wir wissen, dass die Situation schlechter wird, durch Klimawandel, wachsende Bevölkerungszahlen oder soziale Spannungen, dann sollten wir uns vorbereiten." Die Mehrheit von Konflikten wiederhole sich zudem. Trends auch über Jahrzehnte zu beobachten, helfe bei der Einordnung.
Eine der größten Herausforderungen ist es, andere Organisationen, aber auch Regierungen von der Relevanz datenbasierter Prognosen zu überzeugen. "Entscheidungsträger wollen oft nicht experimentieren, sie wollen keine Fehler machen", sagt Harper.
Wenn ein Land eine größere Migration erlebt, sind Daten zudem nicht das erste, an das lokale Organisationen denken. Oft fehlen die Strukturen, Daten werden gar nicht erhoben oder liegen unbereinigt, in nicht maschinenlesbarer Form vor. "Unser Gefühl der Dringlichkeit wird nicht unbedingt von unseren Partnern geteilt", sagt Harper, "aber wenn die anderen Organisationen nicht erkennen, dass bestimmte Daten wichtig sind, sammeln sie sie nicht - oder zwei oder drei Wochen zu spät."
Am wichtigsten sei es aber, erstmal herauszufinden, welche Indikatoren entscheidend sind, so Harper: "Man kann sich Daten, Statistiken und Trendanalysen ansehen, aber du musst dich mit den Menschen unterhalten, und sie fragen, was wichtig ist." Ziegenpreise wirken vielleicht aus westlicher Perspektive wenig nützlich, um Migrationsbewegungen vorherzusagen - in einigen Ländern können sie aber der entscheidende Hinweis sein.