S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Im Netz der Besserwisser

Manche Internetnutzer wissen alles: wie Osama Bin Laden getötet wurde, was im Atomkraftwerk Fukushima wirklich passiert, dass Aristoteles keine Ahnung von Fliegenbeinen hatte. Das Netz ist voll gefühlter Experten - und die brauchen dringend Nachhilfe.

Aristoteles, den man mit nur geringer Vermessenheit als Urvater der modernen Wissenschaften bezeichnen kann, schrieb um das Jahr 350 vor Christus: "Eintagsfliegen bewegen sich auf vier Beinen". Bis ins späte Mittelalter hielt sich deshalb in vielen Schriften über die Biologie die Behauptung, Fliegen hätten vier Beine. Und auch heute noch lachen Hochschüler in Online-Foren erleichtert über Aristoteles; mit einer so prominenten, angeblichen Präzedenzdämlichkeit kann die eigene Dummheit ja so schlimm nicht sein .

Die enorme Sechsbeinigkeit der Fliege an sich ist schließlich für jeden ungewaschenen Interessierten recht einfach nachzuweisen. Hätte Aristoteles im Internet statt an Platons Athener Akademie publiziert, die Wissenschaftsgeschichte wäre anders verlaufen.

Auf Twitter wäre ihm nach kurzer Zeit zweihundertfünfzigmal mitgeteilt worden, dass Fliegen stets sechs Beine haben. Allerdings hätte er - mit ähnlicher Empörung und Sicherheit vorgetragen - auch lesen müssen, dass Fliegen doch wohl acht Beine hätten und dass Fliegen nur eine Erfindung der CIA seien. Ein paar Stunden später hätte in verschiedenen Blogs gestanden, dass Aristoteles' Behauptung ("Fliegen VIER Beine? WTF?") so vernichtend falsch sei , dass sein gesamtes Werk bis auf weiteres als fehlerhaft gelten müsse.

Die folgende Überprüfung mit Hilfe des anonym betriebenen AristoWiki würde auf 23,42 Prozent der Seiten seines Werks vermutete Fehler oder eventuell fehlerähnliche Textpassagen feststellen. Der jeweilige Stand der Anschuldigungen wäre in Aristoteles' Wikipedia-Eintrag unter der Überschrift "Kritik" dokumentiert worden. Professionelle Medien hätten das als Beweis für die Echtheit der Anschuldigungen betrachtet, woraufhin Wikipedia ebendiese Medien als Relevanznachweis verlinkt hätte, nicht ohne Hinweis auf die Dutzenden Facebook-Seiten mit Aristoteles-Spott ("Sogar deine Mutter ist klüger als Aristoteles", 156.839 Fans, Stand: Iden des August 350 v. Chr.).

Alles zu allem und auch das Gegenteil davon

Das Internet ist eine Wissensmaschine , deren Ausmaß jeden Superlativ lächerlich macht. Aber im Internet finden sich nicht bloß wahre oder falsche Informationen - es findet sich alles zu allem und auch das Gegenteil davon. Vermutlich ist manchmal auch die einigermaßen objektive Wahrheit darunter oder etwas, was ihr nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nahekommen könnte. Und je nachdem, wie und wonach man sucht, finden sich auch genau die Informationen, die man finden möchte - bewusst oder unbewusst. Im März 2011 hat Konrad Lischka einen der meistweitergeleiteten Artikel auf SPIEGEL ONLINE geschrieben, "Die ganze Welt ist meiner Meinung".

Er erklärt dort ein soziotechnologisches Phänomen: Plattformen wie Facebook messen, welche Nachrichten und Informationen der User lieber liest und blendet die unerwünschten aus, ohne Zutun des Nutzers und oft auch unbemerkt. Auch außerhalb von Facebook spuckt das Internet häufig genau die Facette der Realität aus, die man ihm per Suchanfrage vorgibt. Der Netzdenker Michael Seemann* hat dafür den Begriff Queryology (Query bedeutet Suchanfrage) erfunden: Die Art der Suche prägt die Wahrnehmung der Realität entscheidend .

Er beschreibt damit eine Mechanik im Netz, die jeder aus der Kohlenstoffwelt kennt. Die Eltern beantworten die Frage "Soll ich Astronaut werden?" anders als die Schulkameraden. Die Auswahl, wen man um Rat fragt, bestimmt die Antwort. Was sich im Kleinen überschaubar anhört, wird in der Überkomplexität des Internets zum Problem. Das Wissen, auf dessen Grundlage der Einzelne kommuniziert und zum Beispiel Aristoteles auf die sechs Beine der Fliege hinweist, ist oft nur Query-Wissen. Damit fällt es häufig in die gefährlichste Kategorie des Halbwissens: das vermeintlich objektive, tatsächlich aber hochsubjektive und nur durch entsprechende Quellenauswahl bestätigte Wissen.

Hätte, hätte, Fahrradkette

Daraus entsteht, vermischt mit der Normalimpertinenz des erfahrenen Internetnutzers, eines der gleichzeitig lästigsten und lustigsten Phänomene des Mitmach-Internets: das gefühlte Expertentum. Was auch immer das Weltgeschehen an Neuigkeiten bereithält - im Netz finden sich sogleich Experten sonder Zahl für exakt diesen Topos. Schon Minuten nach der Loveparade-Katastrophe im Sommer 2010 bestand das deutschsprachige Internet aus beeindruckend vielen Panikforschern mit Schwerpunkt Tunnelwissenschaft, Spezialisten der Quetschungsmedizin mit gleichzeitiger Kompetenz in Polizeistrategie und langjährig erfahrenen Event-Experten. Schuldige, Unschuldige sowie der präzise Hergang und die Vermeidbarkeit des Unglücks ließen sich von diesen Spontanfachleuten offenbar anhand von verwackelten YouTube-Videos aus dem Großraum Duisburg bestimmen. Dass auch professionelle Journalisten in diese Falle tappten, macht es nicht besser. Gefühltes Expertentum zeichnet sich durch immense Hinterher-Klugheit aus, hätte, hätte, Fahrradkette.

Die hohe spezifische Expertendichte des Internets begleitet auch Fukushima, das die bisher kaum bemerkte Expertisekombination von Tsunami-Spezialisten und Strahlungsfachkräften endlich ans Monitorlicht brachte. Ähnlich viele Sachkundige analysieren derzeit die verschiedenen Dimensionen des Einsatzes gegen Bin Laden. Leistungskurs Völkerrecht und Islamismusforschung via Google und Wikipedia in dreißig Sekunden - wenn überhaupt vor der allgemein- und endgültigen Feststellung der Weltfakten nachrecherchiert wird. Viel lässt sich ja auch aus dem Gedächtnis und dem Gefühl heraus sagen.

10.000 Stunden Verschwörungstheorienstudium ergeben keinen Experten

Die Query-Realität ist nur ein Schritt von der Verschwörungstheorie entfernt - und der lässt sich auch unbewusst gehen. Die großartige Wissensmaschine ist in Gefahr, zur Besserwissensmaschine der gefühlten Experten zu werden. Der Unterschied liegt nicht in den jeweiligen Informationen, die man sich ergoogelt und erfacebookt hat - sondern in der Kenntnis um ihre Relativität, Subjektivität und eventuelle Falschheit.

Dabei hat die schiere Masse der Informationen im Netz, anders als viele Netzeuphoriker glauben oder hoffen, auch negative Folgen, weil sie auf eine wenig vorbereitete Öffentlichkeit prallt. Malcolm Gladwell beschreibt in seinem Buch "Outliers" die 10.000-Stunden-Regel: Wer sich über 10.000 Stunden mit irgendetwas beschäftigt, wird darin zum Experten. Das diesbezügliche Problem mit dem Wissen im Netz sind der ungeheure Umfang und die selbstjustierbare Query-Realität: Wer 10.000 Stunden lang Verschwörungsseiten zum 11. September 2001 liest, wird nicht zum 9/11-Experten. Sondern allenfalls zum Experten für 9/11-Verschwörungsseiten. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass man sich 10.000 Stunden oder 1250 Arbeitstage lang mit den gleichen, immer im Kreis verfremdeten Informationsbrocken beschäftigt hat - die scheinbar aus vielen unterschiedlichen Quellen stammten.

Die Gesellschaft muss auf das anwachsende, aufgeblähte, verschwörungsdurchseuchte Wissensarchiv, auf die Query-Realität, auf die unbewusste und algorithmische Filterung der Informationen reagieren. Ein bisher an deutschen Schulen vernachlässigtes Fach wird zur Schlüsselqualifikation: das Wissen, wie Wissen zustande kommt, die Epistemologie.

Wie Wissen im sozialen Netz entsteht, eine Art Web-Epistemologie, wird in jedem Augenblick im Detail neu verhandelt, selbst wenn sich viele längst bekannte Funktionsweisen darin wiederfinden. Die große Entwicklungsgeschwindigkeit des Internets aber macht es leichter, Netzexperte zu werden als Netzexperte zu bleiben. Wahrscheinlich wäre Aristoteles schon wegen der vielen gefühlten Experten froh, nicht zu Zeiten des Internets gelebt zu haben. Ansonsten hätte er ihren spöttischen Vorwurf wegen der vier Fliegenbeine mit einem einzigen Tweet beantworten können: "Narren. Ihr habt falsch gelesen: natürlich sind Fliegen Hexapoden, siehe mein De partibus Animalium . Aber auf 4 Beinen bewegen heißt nicht nur 4 Beine haben ".

* Disclosure: Mit Michael Seemann bin ich befreundet.

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